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Die Wuensche meiner Schwestern

Die Wuensche meiner Schwestern

Titel: Die Wuensche meiner Schwestern
Autoren: Lisa van Allen
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umgebracht. Wegen eines gottverdammten Einkaufszentrums. Mein Gott, Mariah ist im Kampf gegen die Zerstörung ihres Zuhauses gestorben!« Riesige Tränen kullerten Jeanettes ockerbraune Wangen hinunter, und das Weiß ihrer Augen war mit Rot durchsetzt. »Ich verstehe nicht, wie du überhaupt noch hier sein kannst, Aubrey. Warum bist du nicht zu Hause? Warum vergießt du keine Tränen über einer Tasse Pfefferminztee? Wir sprechen hier von Mariah . Der Frau, die dich großgezogen hat. Der einzigen Familie, die dir noch geblieben war – «
    »Meine Schwestern – «
    »Die zählen nicht. Komm schon, Aub. Willst du mir sagen, dass du gar keine Träne für sie hast? Nicht eine?«
    Aubrey dachte einen Moment lang nach. Manchmal sagten Leute, die einen geliebten Menschen verloren hatten, dass sie wie benommen waren. Sie sagten Dinge wie: Es ist noch nicht richtig bei mir angekommen. Aubrey verstand ganz genau, was es bedeutete, dass ihre Tante gestorben war; und schon kam ihr alles, was sie tat und sah, weit entfernt vor. Sie sah einen Baum – etwa den knorrigen kleinen Hornstrauch vor der Highschool, den sie schon tausende Male gesehen hatte –, und auch wenn es derselbe Baum war wie immer, spürte sie doch, dass etwas daran anders war. Anders, aber nicht verändert .
    Es war die Strickerei, die sie bereits zu sich rief, an ihr zog wie tausend kleine Haken an ihrer Haut. Seit Aubrey dreizehn war und ihre Augen ein Blau angenommen hatten, das schlicht ein medizinisches Wunder war, wusste sie, dass sie eines Tages mit der Strickerei vermählt sein würde, so wie ihre Tante Mariah, und davor ihre Großmutter und davor ihre Urgroßmutter und davor die Schwester ihrer Ururgroßmutter und davor wer auch immer, die ganze Reihe zurück bis zu Helen Praisegod Van Ripper, die den Anfang gemacht und sie alle verdammt hatte. Aubrey war lediglich die jüngste Van Ripper, die die Strickerei zur Hüterin ihrer Geheimnisse erwählt hatte – ihr Leben war nicht mehr oder weniger wichtig als das ihrer Vorgängerinnen. Und sie hatte sich schon vor langer Zeit dazu gezwungen, ihr Schicksal am Rand der Gesellschaft zu akzeptieren – es anzunehmen. Sie lebte Tag für Tag mit dem Wissen, dass sie irgendwann in vielen Jahren, wenn sie bereit war, die Rolle ihrer Tante in der Strickerei und in der Gemeinde übernehmen würde. Die Frauen Tarrytowns würden zu ihr kommen und ihren geheimen Kummer, ihr Leid und ihre Wünsche auf Aubreys Schultern abladen, und nach einem Zauber würden sie Aubrey dann schmähen oder verehren, so wie sie auch Mariah geschmäht oder verehrt hatten, und Aubrey würde hinter den Mauern der Strickerei verwelken wie eine zwischen die Seiten eines Buches gepresste Blume.
    Doch all dies hätte in ferner Zukunft geschehen sollen – nicht jetzt, nicht, solange Aubrey noch so jung war. Mariah, die alle Geheimnisse Tarrytowns mit beeindruckender Belastbarkeit geschultert hatte, war nicht mehr da, um ihr zu helfen. Und ihre Schwestern, die ihr einst so nah waren, wie es die Kerne im Gehäuse eines Apfels einander sind, waren verschwunden.
    »Soll ich dich nach Hause begleiten?«, fragte Jeanetteund strich ihr über den Rücken. »Wir könnten Pizza bestellen und uns im Schlafanzug Filme ansehen.«
    »Ist schon in Ordnung«, meinte Aubrey.
    »Ich finde einfach, du solltest jetzt nicht allein sein.«
    »Danke. Aber genau das möchte ich«, erwiderte Aubrey.
    Nachdem entschieden war, was mit Mariahs Leichnam geschehen sollte, und nachdem sie Jeanette ein letztes Mal umarmt hatte, schleppte sie sich zurück zur Strickerei. Sie öffnete die Tür und bemerkte, dass sie beim Verlassen des Hauses vor so vielen Stunden vergessen hatte, hinter sich abzuschließen. Sie blieb im Hauseingang stehen. Vor ihr erstreckte sich wie immer der Flur mit den braunen Schatten der Wasserflecken, den geisterhaften Umrissen längst abgehängter Bilderrahmen und der fleckigen blauen Tapete, die sich an den Rändern wellte. Rechts von ihr befand sich das Wohnzimmer, das niemand mehr benutzte. Zu ihrer Linken war die Strickstube voller Körbe und Fässer und einer Überfülle an Wolle, Strängen und Wollknäueln.
    Das Haus legte sich ihr über die Schultern wie ein staubiges Sargtuch.
    Sie nahm sich vor, besser nicht nachzudenken. Sie bereitete – nur für sich allein – ein aufwendiges Abendessen aus Tofu-Sushi zu, stellte dann jedoch fest, dass sie keinen Appetit hatte. Also duschte sie ausgiebig. Dann polierte sie das alte Tafelsilber. Sie putzte
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