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Die Werte Der Modernen Welt Unter Beruecksichtigung Diverser Kleintiere

Die Werte Der Modernen Welt Unter Beruecksichtigung Diverser Kleintiere

Titel: Die Werte Der Modernen Welt Unter Beruecksichtigung Diverser Kleintiere
Autoren: Marina Lewycka
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gestreiften Pullover; die andere Frau sieht aus wie sie, nur älter, mit einer formlosen grauen Dauerwelle und schlechten Schneidezähnen. Ihre Mutter? Das Mädchen reißt Doro das Foto aus der Hand, sammelt hastig den Rest ihrer Habseligkeiten ein und huscht davon, als die Schwingtür wieder aufgeht und ein gutaussehender Mann mittleren Alters in Hemdsärmeln auf sie zukommt.
    Halb hatte Doro damit gerechnet, in diesem Gebäude demTeufel persönlich über den Weg zu laufen, aber dieser Mann sieht ziemlich sexy aus.
    »Caroline! Liebling! Was machst du hier?« Er küsst seine Frau auf die Wange.
    Er wirkt sehr charmant, auch wenn Doro auffällt, dass sein Hemd nur halb in die Hose gesteckt ist und sein Reißverschluss ein wenig offen steht.
    »Willy wollte Golf spielen, ich habe ihn oben gelassen. Hast du ihn nicht gesehen?« Caroline ist immer noch rot im Gesicht.
    »Ich habe niemanden gesehen. Ich war ... in einem Meeting. Finanzausschuss.«
    Er winkt mit einem Bündel Papiere, auf dem Doro ein grünes Portcullis-Wappen erkennt. Er regiert also auch das Land?
    Caroline springt vor, um ihm den Reißverschluss hochzuziehen. »Mit deinem ukrainischen Flittchen?«
    »Was ist in dich gefahren, Caroline?«, zischt er. »Bist du verrückt geworden?«
    »Ich weiß, was hier läuft, du Schwein!«, zischt Caroline zurück.
    »Caroline, hör auf! Du machst dich lächerlich!«
    Seltsamerweise beobachten die Leute im Saal nicht mehr den kleinen Tumult hier, sondern starren wie hypnotisiert auf ihre Bildschirme, wo immer noch blutrote Wellenbewegungen zu sehen sind.
    »Und du denkst, das kümmert mich? Nachdem du deinen Schwanz durch die ganze Stadt gewedelt hast?«
    »Wer ...?«
    »Das ist meine Freundin ...«
    »Dorothy Marchmont. Guten Tag.«
    »Ken Porter.«
    Er streckt ihr seine große fleischige Hand entgegen, die leicht klebrig ist, wie Doro bemerkt. Sie ergreift den Moment. »Ich bin auf der Suche nach meinem Sohn, Serge Free.«
    Ist er gerade zusammengezuckt?
    Plötzlich ist der ganze Raum vom Heulen einer Sirene erfüllt. Die harten heißen Kunststoffoberflächen werfen den Lärm zurück und steigern ihn zu einem bedrohlichen Jaulen: Whaaa! Whaaa! Whaaa! Dann geht das Licht aus, die Fernsehbildschirme an der Decke flimmern und werden schwarz, und auf den Tischen erlöschen einer nach dem anderen die Monitore, und die Computer fahren herunter. Mit einem großen Finale von Alarmtönen und Abschiedsklingeln kommt das ganze System langsam zum Stillstand.
    »Feueralarm!«, brüllt jemand vom anderen Ende des Saals.
    »Bombendrohung!«, ruft ein anderer.
    Nur das wässrige Licht, das durch die hohen Fenster fällt, erhellt die Szene, als Dutzende, nein, Hunderte von Gefangenen ihre Ketten abwerfen und auf die Schwingtür zurennen.
    »Ja! Befreit euch, ihr Drohnen!«, ruft Doro, als sie an ihr vorbeilaufen, eine menschliche Flut, die die Treppen hinunterstürzt, weil die Fahrstühle außer Betrieb sind, den Notfalllichtern am Boden folgend.
    »Oh Gott! Willy ist noch oben!«, schreit Caroline plötzlich.
    »Und Oolie!«
    »Schnell! Die Treppe hoch!« Caroline packt Doros Hand, und zusammen kämpfen sie sich gegen den Strom der grauen Anzüge die Treppen hinauf, eins, zwei, drei ... sechs Stockwerke. Der Ehemann folgt ihnen.
    Im obersten Stock bleiben die drei keuchend stehen und lauschen. Alles ist unheimlich still. Niemand ist da. Gedämpft ist der Radau von unten zu hören; die Sirenen sind verstummt, aber man hört Rufe und Stimmengewirr, und Doro braucht einen Moment, um ein Geräusch in der Nähe herauszufiltern, ein leises sich hebendes und senkendes Ächzen, das ein bisschen wie Schnarchen klingt.
    »Wir müssen vernünftig miteinander reden«, sagt der Ehemann und packt Caroline am Arm.
    Doro sieht eine pulsierende lila Vene an seiner Schläfe. Sein linkes Auge zuckt.
    »Zuerst müssen wir die Kinder finden«, würgt sie ihn ab.
    »Sehen Sie beim Golfsimulator nach.« Caroline zeigt ihr die Richtung. »Dahinten. Ich gehe zum Konferenzraum.«
    Doro hat keine Ahnung, was ein Golfsimulator ist, also steckt sie den Kopf nacheinander in mehrere leere Büros. Am Ende des Korridors führt eine Tür in einen Raum, in dem es vollkommen dunkel ist. Während sie in die Finsternis starrt, geht plötzlich das Licht an, und an der Stirnwand des langen, schmalen Raums taucht eine üppige grüne Landschaft auf, ein mit Bäumen gesprenkeltes Tal, ein rauschender Bach im Vordergrund, im Hintergrund Berge. Sie schnappt nach Luft. Vor
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