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Die Werte Der Modernen Welt Unter Beruecksichtigung Diverser Kleintiere

Die Werte Der Modernen Welt Unter Beruecksichtigung Diverser Kleintiere

Titel: Die Werte Der Modernen Welt Unter Beruecksichtigung Diverser Kleintiere
Autoren: Marina Lewycka
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Schneematsch überfriert. Oolie rutscht, und er greift nach ihrer Hand, um sie festzuhalten. Dann rutscht Clara auf der anderen Seite. Er geht in der Mitte, und beide Frauen halten sich an ihm fest.
    Nach einer Weile drückt er Claras Hand und sagt: » Iron Man läuft wieder im Odeon. Er soll ganz gut sein.«
    »Ich habe ihn schon ...« Sie unterbricht sich.
    »Was ist Eier-Mann?«, fragt Oolie.
    »Das ist ein Film«, sagt Clara.
    »Ich mag Filmer! Kann ich mitkommen?«
    »Nein«, sagt Mr. Clements.

Serge
    Das Geisterkaninchen
    Serge ist tief in Gedanken, als er auf dem Heimweg im halb geschmolzenen Schnee durch die dunklen leeren Straßen wandert, und erinnert sich nur noch vage an die Hochstimmung, mit der er am Morgen aufgebrochen war. Der uralte Rhythmus des Menschen – einen Fuß vor den anderen – hilft ihm, seine Gedanken zu ordnen, während er über das heutige Gespräch mit Maroushka nachgrübelt. Sie hat ihm nicht direkt gedroht, aber sie hat – mit ihrem merkwürdigen Zwölfjährigenlächeln – angedeutet, dass es wegen seiner Rolle bei Morgenluft und seiner heimlichen Geschäfte in seinem eigenen Interesse wäre, den Mund zu halten.
    Er wählt ruhige Straßen und Gassen, wo die Geschäfte und Büros geschlossen sind, und geht vorsichtig, denn das Pflaster ist tückisch; an diesem feuchten Dezemberabend braust nur ab und zu ein Taxi vorbei und hinterlässt versengten Dieselgeruch, lange nachdem es verschwunden ist. Er spürt immer noch den kalten Griff des Todes um sein Herz.
    ... ich nur hier mit Studentenvisum. Wenn Studium fertig, ich muss zurück nach Shytomyr ...
    Sein Weg führt ihn über Moorgate zur Chiswell Street und Bunhill Row hinauf, wo die Toten unter einer dünnen Schneedecke in ordentlichen Gräbern den Schlaf der Gerechten schlafen. Früher ist er hier tagsüber manchmal spazieren gegangen – der Friedhof erinnert ihn an den in der Mill Road inCambridge –, aber nachts ist es irgendwie unheimlich, oder vielleicht ist es auch seine Gemütsverfassung, die alles unheimlich wirken lässt.
    »Aber Chicken beantragt richtige Arbeitsvisum für mich. Du verstehst ...?«
    Jetzt hat sie ihr Visum. Und was hast du ihm dafür gegeben, Maroushka?
    Ihr persönlicher Verrat kommt ihm schrecklicher, erschütternder vor, als wenn sie einfach mit Chicken geschlafen hätte. Wobei sie das wahrscheinlich auch getan hat.
    Plötzlich sieht er, wie etwa zwanzig Meter vor ihm am Friedhofstor eine kleine weiße Gestalt aus dem Schatten der Äste, die über den Zaun wachsen, aufs Pflaster springt, still sitzen bleibt und ihn anstarrt. Sie hat ungefähr die Größe und Form eines großen weißen Kaninchens. Er bleibt stehen. Reibt sich die Augen. Sein Herz klopft wie wild. Ist das ein böser Traum?
    Ein einzelnes Auto fährt vorbei. Das Ding rennt nicht weg, sondern zittert nur. Es sieht aus, als fehle ihm ein Ohr. Er geht weiter, langsamer jetzt, den Blick fest auf das Tier gerichtet. Es läuft nicht davon, doch es schwankt leicht von einer zur anderen Seite; fast sieht es aus, als würde es sich verwandeln, grotesk anschwellen. Was zum ...?
    Aah! Er stolpert.
    Ein wahnsinniger Schmerz schießt ihm durchs Knie, als er sich mit vollem Gewicht das Bein verdreht, da sein Fuß zwischen dem Pedal und dem Reifen eines auf dem Boden liegenden Fahrrads hängen geblieben ist. Irgendein Idiot hat sein Rad am Zaun festgeschlossen. Als er stürzt, springt das weiße Ding auf ihn zu. Er schnappt nach Luft, streckt abwehrend die Hände aus und sieht, dass es nur eine Plastiktüte mit zerknüllten Servietten und den Resten eines Schnellgerichts ist, die irgendeine Sau weggeworfen hat. Scheiße! Sein Knie ist hinüber. Warum lassen die Leute den verdammten Bürgersteig nicht frei? Ist das etwa zu viel verlangt?
    »Alles in Ordnung?« Ein kleiner Mann mit Wollmütze kommt aus einem Pub auf der anderen Straßenseite.
    »Ja, ja. Alles klar. Ich brauche nur ein Taxi.«
    Tränen strömen ihm übers Gesicht, als der Schmerz überhandnimmt, alles andere ausschaltet, und er stellt fest, dass er zugleich schluchzt und kichert, auf einer Achterbahn von Qual und Hochgefühl. Alles, was vorher verworren erschien, ist plötzlich wunderschön einfach, als hätte er ein Theorem entdeckt. Als hätte man ihn endlich aus seiner Tretmühle entlassen.
    Jetzt weiß er sicher, dass er nie mehr zur FATCA zurückgehen wird. Eine große Leichtigkeit umfängt ihn und hebt ihn vom Pflaster, hebt ihn über den Schmerz, hebt ihn über Scham und Reue und
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