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Die Werte Der Modernen Welt Unter Beruecksichtigung Diverser Kleintiere

Die Werte Der Modernen Welt Unter Beruecksichtigung Diverser Kleintiere

Titel: Die Werte Der Modernen Welt Unter Beruecksichtigung Diverser Kleintiere
Autoren: Marina Lewycka
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einem metallischen Schnappen und Zischen die Fahrstuhltür wieder. Heraus kommen eine großeblonde Frau und ein pummeliger Junge. Die vier stehen da und starren einander an.
    »Wer sind Sie?«, wird Doro von der großen Blonden gefragt. Sie trägt flache Schuhe und jede Menge Schmuck, der auf Doro ein bisschen vulgär wirkt.
    »Dorothy Marchmont«, sagt Doro, der das Selbstvertrauen fehlt, die Frau zu fragen, was sie das angeht. »Und wer sind Sie?«
    »Caroline Porter. Haben Sie meinen Mann gesehen?«
    »Ich habe überhaupt niemanden gesehen hier oben«, sagt Doro und beschließt, nichts von dem Geräusch zu sagen, das inzwischen aufgehört hat.
    »Willst du meinen Stimulator sehen?«, flüstert der Junge Oolie zu. Auch er hat die weichen Down-Syndrom-Züge und den sanften, leicht verlorenen Gesichtsausdruck.
    »Ja, ich will den Stimulator!«
    »Oolie! Nein!«, zischt Doro. »Ich habe keine Ahnung, wer Ihr Mann ist«, sagt sie zu der Frau. »Ich bin auf der Suche nach meinem Sohn.« Dann, als sie ihre traurigen Augen sieht, wird ihre Stimme freundlicher. »Wie alt ist Ihr Junge?«
    »Gar nicht mehr so jung. Willy ist vierundzwanzig. Und Ihre ... ist sie Ihre Tochter?«
    Sie lächeln einander an.
    »Ja. Oolie-Anna. Dreiundzwanzig.«
    Oolie und Willy sind verschwunden, aber sie kann ihre Stimmen weiter unten im Flur hören.
    Im gleichen Moment springt vor ihnen ein winziges weißes Kaninchen durch den Flur. Doro reibt sich die Augen. Dann begreift sie, dass sie nicht träumt und dass es kein weißes Kaninchen ist, sondern ein weißer Golfball, der sehr schnell ist.
    »Willy! Pass doch auf!«, ruft Caroline. »Er ist völlig vernarrt in den Golfsimulator«, erklärt sie Doro.
    Ach so. Vielleicht war das das Geräusch.
    »Ich glaube, mein Sohn arbeitet hier irgendwo«, sagt Doro. »Ich muss ihn finden.«
    Caroline nickt. »Wir haben hier ungefähr tausend Mitarbeiter. Ist er Trader?«
    »Ich habe keine Ahnung. Ich hoffe nicht.«
    »Die Trader sind im neunten Stock. Möchten Sie, dass ich mitkomme?«
    »Würden Sie das tun?«
    »Kommen Sie. Gehen wir.«
    »Was ist mit ...?«
    »Das ist in Ordnung. Sie können mit dem Golfsimulator spielen. Hier oben gibt es sonst nichts, was sie anstellen könnten.« Sie drückt auf den Fahrstuhlknopf.
    »Und Ihr Mann?«, fragt Doro, als sie nach unten in den neunten Stock gleiten.
    »Das werden wir sehen.«
    Der Lärm im Handelsraum schlägt Doro wie eine Wand entgegen, als die Doppeltür aufschwingt.
    »Serge!«, ruft sie mehrmals.
    Allmählich legt sich das Stimmengewirr. Gut achtzig Augenpaare sind auf sie gerichtet.
    »Serge, ich weiß, dass du da bist! Hab keine Angst!«
    Schweigen.
    Neben ihr flüstert Caroline: »Wow! Sie haben aber eine eindrucksvolle Stimme!«
    »Ja, ich war früher viel auf Demos.«
    Warum kommt Serge nicht raus? Es muss eine simple Erklärung geben, dass er nicht mit ihr geredet hat. Vielleicht hatte er Angst, dass sie ihm vorwirft, er hätte seine Ideale verraten.
    »Serge! Ich bin’s, deine Mum! Du kannst jetzt mit nach Hause kommen. Alles ist vergeben!«
    Eine Welle unterdrückter Hysterie läuft durch den Saal. Imganzen Handelsraum halten sich die Männer in Anzügen und die wenigen Frauen die Hände vors Gesicht, und ihre Schultern zucken. Selbst die Bildschirme scheinen zu kichern, und blaue Wirbel machen roten Wirbeln Platz.
    »Was wollen Sie? Warum schreien Sie?«
    Ein böse dreinschauendes dunkelhaariges Mädchen in einem engen schwarzen Kleid und lächerlich hohen Stöckelschuhen ist hinter ihnen durch die Tür gekommen. Sie ist recht hübsch, aber zu dünn, und sie trägt viel zu viel Make-up.
    »Ich suche nach meinem Sohn, Serge Free.«
    »Sie sind Mutter von Sergej?« Das Mädchen mustert sie mit kaum versteckter Verachtung. »Ich habe gedacht, Sie sind mehr kultiviert.«
    Plötzlich macht Caroline einen Satz und packt das Mädchen an den Haaren.
    »Du bist das! Du Ukrainerflittchen!«
    Das Mädchen wehrt sich. »Loslassen! Du doch verstehst ihn nicht. Alte verlassene Weib!«
    Caroline springt ihr an die Kehle.
    Das Mädchen schlägt mit Händen und Füßen um sich, lässt die Handtasche fallen, deren Inhalt sich auf den Boden ergießt – schäbige Make-up-Utensilien, eine verfilzte Bürste, zerknüllte Taschentücher, fleckige Münzen. Ein kleines quadratisches Foto flattert Doro vor die Füße. Sie hebt es auf. Es zeigt zwei Frauen, Arm in Arm, die in die Kamera lächeln. Sie erkennt das Mädchen wieder, mit kürzerem Haar, in einem
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