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Die Welt aus den Fugen

Die Welt aus den Fugen

Titel: Die Welt aus den Fugen
Autoren: Peter Scholl-Latour
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Überzeugung noch vertieft. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion schien es, als sei der demokratische Kapitalismus die einzig akzeptable Formel. Aber ›das Ende der Geschichte‹ – ein Hinweis auf die These Fuku­yamas – hat wohl nicht stattgefunden. Die chinesische Entwicklung in den vergangenen dreißig Jahren entspricht in keiner Weise den von Europa und Nordamerika vorgegebenen Normen … Dennoch und vielleicht aus diesem Grunde hat die Wirtschaft dieses autoritären Regimes die westlichen Konkurrenten überholt, ihre Bourgeoisie bereichert, einen beachtlichen Mittelstand geschaffen und Hunderte Millionen Bedürftige ihrem bisherigen Zustand der Armut entrissen.«
    *
    Ganz bewußt räume ich den Vorgängen in Fernost die Priorität ein. War das 19. Jahrhundert das »Saeculum« Großbritanniens und das 20. von der amerikanischen Machtentfaltung geprägt, so könnte das 21. Jahrhundert – zumindest in seiner zweiten Hälfte – der Volksrepublik China eine hegemoniale Rolle zuweisen. Nicht von ungefähr widmete der in Hawaii geborene und in Indonesien aufgewachsene Barack Hussein Obama seine diplomatische und strategische Aktivität vorrangig dem pazifischen und nicht mehr dem atlantischen Raum. Die Rivalität zwischen Drachen und Adler muß nicht zwangsläufig zu einer kriegerischen Auseinandersetzung führen. Ein militärischer Sieg des einen über den anderen ist ohnehin nicht vorstellbar, aber der Wettstreit um die Abgrenzung der Einflußzonen ist voll entbrannt.
    Der Anspruch der Volksrepublik auf die Archipele Spratly und Paracel im Südchinesischen Meer wäre mit einer Ausdehnung ihrer Hoheitsgewässer bis in die Nähe Vietnams, der Philippinen, Malaysias und Indonesiens verbunden. Es geht nicht nur um die Ausbeutung der dort georteten Reserven an Erdöl und Erdgas. Eine Kontrolle Chinas dieser wichtigsten Schiffahrtsroute zwischen Indien und Japan wäre für Wa­shington unerträglich. Kein Wunder, daß das State Department die Länder der ASEAN-Gruppe an sich zu binden sucht und das Pentagon die Vielzahl seiner Basen auf Okinawa, Guam und den Philippinen durch eine zusätzliche Stationierung von US Marines im nordaustralischen Hafen Darwin ergänzt.
    Der Ausbau der chinesischen Marine wird von der US Navy als existentielle Gefährdung der Zukunft bewußt aufgebauscht. Der Armada zahlreicher kolossaler Flugzeugträger, über die die amerikanische Admiralität verfügt, hat China nur ein geringes Flottenaufgebot entgegenzusetzen. Aber die Kapitäne der deutschen Marine haben bei gemeinsamen NATO-Manövern erprobt, wie unbemerkt sie sich an diese »Galeeren der Roboter« – der Ausdruck stammt von Adalbert Weinstein – heranpirschen und sie ins Visier nehmen könnten. Sollte es zum Cyber-War kommen, auf den die Großmächte sich fieberhaft vorbereiten, wäre zudem eine Lähmung der extrem empfindlichen Elektroniksysteme dieser Seeungeheuer nicht auszuschließen. Die Entscheidungsschlacht von Midway, die der Flotte des Tenno zum Verhängnis wurde, gehört einer anderen Epoche an.
    Was nun – auf einen ganz anderen Sektor abweichend – die angebliche Überlegenheit der amerikanischen Form des Kapitalismus über alle anderen Wirtschaftssysteme betrifft, so habe ich mich – um nicht der ewigen Schwarzmalerei bezichtigt zu werden – wiederum an angelsächsische Experten gehalten. Ich zitiere Michael Ignatieff, einen eminenten kanadischen Intellektuellen und liberalen Politiker, dem zufolge die Geschichte nicht über ein vorverfaßtes Drehbuch verfügt. Der Westen erliege einer trügerischen Interpretation des Zeitgeschehens, wenn er annimmt, China und Rußland würden sich in Richtung auf eine uns verwandte demokratische Freiheitlichkeit zubewegen. Man sollte sich nicht einreden, daß die Welt zwangsläufig auf eine liberale Gesellschaft zusteuert. »Wir gingen davon aus, daß alle anderen Nationen sich an unserem Modell ausrichten würden. Aber was geschähe, wenn diese Hypothese, die den westlichen Business-titanen so attraktiv erscheint, auf einem grundlegenden Irrtum beruhte?«
    Im Rückblick erscheint die Vernichtung der babylonischen Türme des World Trade Centers von Manhattan durch eine Handvoll Fanatiker wie ein Menetekel. Das ursprüngliche, von Calvin inspirierte Gebot
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