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Die Welt aus den Fugen

Die Welt aus den Fugen

Titel: Die Welt aus den Fugen
Autoren: Peter Scholl-Latour
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koexistierten: Während des 17. Jahrhunderts betrieben das Heilige Römische Reich, das Osmanische Reich, das Mogul-Reich, die Qing-Dynastie und die Tokugawa-Shogune ihre Angelegenheiten gemäß unterschiedlichen Konzepten von Sitte und Kultur. Aber diese Mächte lebten weitgehend auf sich selbst bezogen und beschränkten sich auf geringe Kontakte untereinander … Unser Jahrhundert hingegen bringt zum ersten Mal in der Geschichte vielfache Vorstellungen von Ordnung und Modernität in unmittelbaren Kontakt. Es entstand eine ›interconnected world‹. Aus dieser Erkenntnis heraus sollte Washington anerkennen, daß die amerikanische Formel von Kapitalismus und säkularer Demokratie nunmehr auf dem Marktplatz der Ideen mit rivalisierenden Systemen koexistieren muß. Die verantwortlichen Politiker Amerikas erweisen ihrem Land einen schlechten Dienst, wenn sie allzu selbstbewußt ein neues amerikanisches Jahrhundert ankündigen oder fremde Regierungen im Namen einer globalen Ausbreitung westlicher Werte zu Fall bringen.«
    Wachablösung in Peking
    Das Jahr 2012, das von vielfältigen Phänomenen einer weltweiten Auflösung gezeichnet ist, gilt in Fernost als »Jahr des Drachen«. Das hatte ich im Tischgespräch mit einem hochrangigen Diplomaten der Volksrepublik China in dem weißgekachelten Kolossalbau der Botschaft am Märkischen Ufer in Berlin vernommen. Dieses Fabeltier genießt im Reich der Mitte eine höchst positive Bewertung als Symbol von Kraft und Weisheit, von Harmonie und Macht. Der Kaiser in der Verbotenen Stadt schmückte sich mit dem Titel »Sohn des Drachen«. Als mein freundlicher Gastgeber, ein hochgewachsener, mit perfekter Eleganz gekleideter Mandarin, der in der alten Gründungsmetropole Xian geboren war, mich zu meinem hohen Alter beglückwünschte – in China gilt die Zahl Acht als Glückszahl, und eine doppelte Acht verheiße eine besonders günstige Konstellation –, reagierte ich mit der gebotenen Skepsis.
    Es steht mir nicht an, den Inhalt eines vertraulichen Meinungsaustauschs wiederzugeben. Bei allen Kontakten mit ausländischen Gesprächspartnern habe ich bei der Schilderung deutscher und europäischer Verhältnisse – ohne jemals in peinliche Selbstkritik zu verfallen – mich ebenso offen geäußert, wie ich das mit einem deutschen Kollegen täte. So habe ich bei den häufigen Telefonaten aus Teheran, wo sich ein mir wohlbekannter Journalist des staatlichen Rundfunks über die deutsche Reaktion auf aktuelle Ereignisse zu informieren suchte, mit ungeschminkter Auskunftsbereitschaft reagiert, meinen Interviewpartner jedoch stets darauf verwiesen, daß mindestens fünf Geheimdienste unseren Dialog belauschten.
    Bei solchen Gelegenheiten habe ich darauf geachtet, nicht in eine Unart deutscher Politiker und Publizisten im Umgang mit Repräsentanten fremder Kulturkreise zu verfallen. Die Pose eines Predigers für Demokratie und Menschenrechte habe ich mir nie angemaßt. Die germanischen Tugendbolde, die sich aufgrund der grauenhaften Last der eigenen Vergangenheit eine gewisse Zurückhaltung auferlegen sollten, formulieren ihre philanthropischen Vorwürfe ja vornehmlich nur gegenüber Vertretern jener Staaten, die sich den strategischen oder wirtschaftlichen Ambitionen der westlichen Welt – zumal des dominanten amerikanischen Verbündeten – entgegenstellen. Was hingegen die gefügigen, positiv bewerteten Regierungen der internationalen »family of nations« – wie die verlogene Floskel lautet – betrifft, mögen sie sich noch so tyrannisch und menschenverachtend gebärden, so bleiben sie in der Regel von diesen heuchlerisch anmutenden Vorwürfen verschont, zumal wenn sie sich als unentbehrliche Rohstofflieferanten empfehlen.
    Das Jahr 2012 steht im Zeichen zahlloser Volksbefragungen und Wahlen. Einige haben zum Zeitpunkt dieser Niederschrift bereits stattgefunden, in Rußland, Frankreich und sogar in der abgelegenen Mongolei. Schon wendet sich die Aufmerksamkeit aller Medien und Kanzleien dem Urnengang zu, aus dem ein neuer oder der alte Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika als Sieger hervorgehen wird, der »mächtigste Mann der Welt«. Aber auch in der Volksrepublik China, wie ich am Märkischen Ufer in Berlin beiläufig erfuhr, vollzieht sich ein Wechsel der obersten Führungsmannschaft
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