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Legend 02 - Schwelender Sturm (German Edition)

Legend 02 - Schwelender Sturm (German Edition)

Titel: Legend 02 - Schwelender Sturm (German Edition)
Autoren: Marie Lu
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JUNE
    4. JANUAR
19:32 UHR OZEANISCHE STANDARDZEIT
FÜNFUNDDREISSIG TAGE NACH METIAS’ TOD
    Neben mir schreckt Day aus dem Schlaf hoch. Schweißperlen stehen ihm auf der Stirn und seine Wangen sind tränenüberströmt. Er atmet schwer.
    Ich beuge mich über ihn und streiche eine feuchte Haarsträhne aus seinem Gesicht. Der Streifschuss an meiner Schulter ist inzwischen verkrustet, doch als ich mich bewege, fängt die Wunde wieder an zu pochen.
    Day setzt sich auf, wischt sich erschöpft über die Augen und sieht sich in unserem schwankenden Eisenbahnwaggon um, als suche er etwas. Sein Blick bleibt an einem Stapel Holzkisten in einer der dunklen Ecken hängen und wandert dann weiter zu dem Sackleinen auf dem Boden und dem Beutel zwischen uns, in dem wir Wasser und Lebensmittel aufbewahren. Es dauert eine geschlagene Minute, bis er seine Orientierung wiedergefunden hat, bis er sich daran erinnert, dass wir als blinde Passagiere in einem Zug nach Vegas unterwegs sind. Nach ein paar Sekunden entspannt er sich und lässt sich gegen die Wand sinken.
    Ich streichele sanft seine Hand. »Alles in Ordnung?« Diese Frage scheine ich in letzter Zeit andauernd zu stellen.
    Day zuckt mit den Schultern. »Ja«, murmelt er. »Albtraum.«
    Neun Tage sind vergangen, seit wir aus der Batalla-Zentrale geflohen sind und Los Angeles verlassen haben. Seitdem hat Day jedes Mal Albträume, wenn er nur die Augen schließt. Als wir uns kurz nach unserer Flucht für ein paar Stunden in einem alten Eisenbahndepot ausgeruht haben, ist Day schreiend aus dem Schlaf hochgefahren. Wir hatten Glück, dass ihn keine Soldaten oder Straßenpolizisten gehört haben. Danach habe ich mir angewöhnt, ihm übers Haar zu streichen, kurz nachdem er eingeschlafen ist, und seine Wangen, seine Stirn und seine Augenlider zu küssen. Trotzdem wacht er jedes Mal keuchend und tränenüberströmt auf und sein Blick huscht hektisch umher, auf der Suche nach allem, was er verloren hat. Aber wenigstens ist er dabei leise.
    Manchmal, wenn Day so still ist, frage ich mich, wie es wohl um seine seelische Gesundheit steht. Der Gedanke macht mir Angst. Ich darf ihn nicht verlieren. Ich versuche mir einzureden, dass das rein praktische Gründe hat: Auf sich allein gestellt hätte keiner von uns im Moment eine große Überlebenschance und unsere Fähigkeiten ergänzen sich perfekt. Außerdem … habe ich sonst niemanden mehr, den ich beschützen könnte. Ich habe selbst eine Menge Tränen vergossen, auch wenn ich damit immer warte, bis Day eingeschlafen ist. Letzte Nacht habe ich um Ollie geweint. Ich komme mir ein bisschen albern vor, um meinen Hund zu trauern, nachdem die Republik unsere Familien getötet hat, aber ich kann einfach nicht anders. Schließlich war es Metias, der ihn damals mit nach Hause gebracht hat, ein weißes Knäuel mit riesigen Pfoten und Hängeohren und treuen braunen Augen, das gutmütigste, tollpatschigste Geschöpf, das ich jemals gesehen hatte. Ollie war mein Freund und ich habe ihn zurückgelassen.
    »Was hast du geträumt?«, flüstere ich Day zu.
    »Nichts Besonderes.« Day bewegt sich und zuckt zusammen, als er aus Versehen mit seinem verwundeten Bein den Boden streift. Sein Körper versteift sich vor Schmerz und ich kann sehen, wie angespannt seine Arme unter dem Hemd sind, die drahtigen Muskeln, die ihm das Leben auf der Straße beschert hat. Ein winziges Keuchen schlüpft ihm über die Lippen. Ich muss daran denken, wie er mich in der Gasse gegen die Wand gedrückt hat, an das Verlangen, mit dem er mich das erste Mal küsste. Verlegen wende ich den Blick von seinem Mund und schüttele die Erinnerung ab.
    Er nickt in Richtung der Waggontür. »Wo sind wir jetzt? Wir müssten doch bald da sein, oder?«
    Ich stehe auf, dankbar für die Ablenkung, und stütze mich an der schwankenden Wand ab, als ich aus dem winzigen Fenster luge. Die Landschaft hat sich kaum verändert – endlose Reihen von Hochhäusern und Fabriken, Schornsteine und alte Highway-Brücken, alles vom Nachmittagsregen zu bläulich fahlen Violetttönen verwaschen. Wir fahren noch immer durch Armensektoren. Sie unterscheiden sich kaum von denen in Los Angeles. In der Ferne erhebt sich ein gewaltiger Staudamm, der sich beinahe über die Hälfte meines Blickfelds erstreckt. Ich warte, bis ein JumboTron vorüberflitzt, und kneife die Augen zusammen, um die kleinen Buchstaben in der unteren Ecke des Bildschirms zu entziffern. »Boulder City, Nevada«, lese ich vor. »Es ist wirklich
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