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Die Welt aus den Fugen

Die Welt aus den Fugen

Titel: Die Welt aus den Fugen
Autoren: Peter Scholl-Latour
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Kontinuität sei jedoch durch den Einbruch des Maschinenalters jäh abgebrochen. Seitdem haben sich die Dinge mit unheimlicher Hast beschleunigt. Der englische Historiker Niall Ferguson hat diesen Prozeß, diese Abkehr von allen überlieferten Schablonen, wie folgt hinterfragt: »Was wäre, wenn die Geschichte gar nicht zyklisch und langsam, sondern arrhythmisch verliefe, manchmal fast stillstände, dann aber wieder zu dramatischer Beschleunigung fähig wäre? Was wäre, wenn die historische Zeit weniger dem langsamen und vorhersehbaren Wechsel der Jahreszeiten entspräche, sondern eher wie die elastische Zeit unserer Träume abliefe? Vor allem aber, was wäre, wenn sich der endgültige Zusammenbruch nicht über Jahrhunderte hinziehen würde, sondern eine Zivilisation plötzlich wie ein Dieb in der Nacht überfiele?«
    Natürlich ist die Theorie Fergusons, die sich auf eine Erschlaffung der Vereinigten Staaten von Amerika richtet, in New York und Washington heftiger diskutiert worden als in Europa. Seine Studie »The West and the Rest« ist im Jahr 2011 erschienen, also zwei Jahre nach meinem auf persönlicher Erfahrung an Ort und Stelle beruhenden Erlebnisbericht »Die Angst des Weißen Mannes«. Meine eher distanzierte Berichterstattung über die Rückschläge der US Army von Vietnam bis zum Hindukusch hat mir den Ruf des Antiamerikanismus eingebracht, als ob die Warnung vor verhängnisvollen kriegerischen Abenteuern nicht als Freundschaftsdienst gewertet werden müßte. Was den befürchteten »decline and fall« der westlichen Führungsmacht betrifft, so werde ich nicht die Torheit begehen, die Fähigkeit der USA zu unterschätzen, sich in Stunden der Not aufzuraffen und mit ungeheurer Kraft zurückzuschlagen. Da kommt mir jene Prahlerei Hermann Görings in Erinnerung, der beim Eintritt des Dritten Reichs in den Krieg gegen die USA behauptete, er sei sich zwar der industriellen Kraft der Vereinigten Staaten bewußt, aber in einem Punkt seien die Amerikaner den Deutschen hoffnungslos unterlegen, sie verfügten über keine vergleichbare Luftwaffe. Man weiß, was aus dieser Fehleinschätzung geworden ist.
    Erwähnen wir nur ein paar Beispiele jener radikalen Wandlung, der wir ausgeliefert sind. Im Zuge stupender wissenschaftlicher Fortschritte hat sich das Erscheinungsbild des Menschen unserer Tage und seiner tradierten gesellschaftlichen Strukturen gründlich verändert. Die Lebensdauer zieht sich in die Länge, bewegt sich auf eine Schwelle von hundert Jahren zu. Dabei entsteht jedoch der Verdacht, daß die durch krampfhafte Forschung erzielte Verzögerung des Todes, diese medizinische Mißachtung der bestehenden Naturgesetze keinen wirklichen Segen bringt. Die zunehmende Vergreisung unserer Gesellschaft wird allzuoft von körperlicher Gebrechlichkeit und geistiger Umnachtung überschattet.
    Vor allem die Bedeutung des »deuxième sexe« hat zumindest in unserer Region eine Gewichtung gewonnen, die auf lange Sicht das Aufkommen eines Matriarchats nicht ausschließt. Noch mögen zahllose Frauen sich diskriminiert fühlen, aber in der Beziehung der Geschlechter untereinander ist mit der Erfindung der Pille, mit der weiblichen Selbstbestimmung der Schwangerschaft, ein grundlegender Wendepunkt eingetreten. Dazu kommt die Tatsache, daß die männliche Muskelkraft keine Überlegenheit mehr verleiht. Selbst in kriegerischen Situationen hat sich erwiesen, daß eine Soldatin – falls sie eine gute Schützin ist – ihren männlichen Kameraden überlegen sein kann, zumal Frauen häufig über eine stärkere psychische Belastbarkeit verfügen. Im beruflichen Wettbewerb vermögen die Angehörigen des »schönen Geschlechts« sich zudem auf eine atavistische Veranlagung zu List und Verführung stützen, die sich in Jahrtausenden viriler Überheblichkeit zum Instinkt entwickelte. »La femme est l’avenir de l’homme – die Frau ist die Zukunft des Mannes«, sagte schon der marxistische Dichter Aragon voraus.
    Zur Divergenz der großen Zivilisationsmodelle lasse ich den amerikanischen Professor für internationale Beziehungen an der Georgetown-Universität, Charles A. Kupchan, zu Wort kommen: »Das 21. Jahrhundert«, so doziert er, »ist nicht die erste Epoche, in der völlig unterschiedliche Modelle des Regierens und des Handels
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