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Die Welt aus den Fugen

Die Welt aus den Fugen

Titel: Die Welt aus den Fugen
Autoren: Peter Scholl-Latour
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geschaffen, das die parlamentarische Attrappe finanziert und für ihre Interessen einspannt.
    Â»Bombardiert das Hauptquartier!«
    In Deutschland hat man den Aufstieg Chinas zur Weltmacht mit Unbehagen und Mißgunst zur Kenntnis genommen. Zwar erinnert man sich an den Ausruf von Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger, der im Jahr 1969 mit dem Satz »Ich sage nur: China! China! China!« unangebrachte Heiterkeit erregte. Auch Helmut Kohl, der bei einer Staatsvisite vor einem Ausflug nach Tibet nicht zurückschreckte, hatte bei aller Bündnistreue zu Amerika die zwingende Notwendigkeit erkannt, mit dem neuen Giganten in Ostasien freundschaft­liche und intensive Beziehungen zu unterhalten, wobei ihm das vertrauensvolle Verhältnis zu dem damaligen Botschafter Mei Zhaorong, den auch ich persönlich schätzen lernte, zugute kam. Aber die breite deutsche Öffentlichkeit – stimuliert durch eine voreingenommene und systematisch desinformierte Presse – hat nicht aufgehört, die chinesische Entfaltung kleinzureden und immer wieder zum »China bashing« auszuholen. Als kommerzieller Partner ist China für die heutige Bundesrepublik unentbehrlich geworden. Doch wann immer die Gelegenheit sich dazu bietet und der transatlantische Allianzpartner das zu erwarten scheint, bricht in den deutschen Medien ein Chor der Verwünschungen gegen die roten Mandarine von Peking aus.
    Man will in Germanien die globalen Umschichtungen ignorieren und kann nicht begreifen, daß die aus Not und Unterdrückung auftauchenden Nationen anderer Kontinente den Brecht’schen Grundsatz beherzigen: »Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral«, anders gesagt, »dann kommt die Demokratie«. Gewisse deutsche Intellektuelle kommen sich offenbar sehr mutig vor, wenn sie, um die Machthaber der Volksrepublik zu irritieren, dem Dissidenten Liao Yiwu den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels verleihen oder dem avantgardistischen Künstler Ai Weiwei eine Berühmtheit einräumen, die er bei seinen Landsleuten in weit geringerem Maße genießt. Gewiß muß man die wackeren Regimekritiker vor der pauschalen Repression durch die Behörden der Volksrepublik zu schützen suchen, aber dabei sollte man die eigene »raison d’état«, die die pragmatisch veranlagte Kanzlerin andernorts sehr wohl zu berücksichtigen weiß, nicht ganz aus den Augen verlieren. Kurzum, die neuen Proportionen einer sich auflösenden Weltordnung bedürfen einer nüchternen Analyse. In der gegenwärtigen Eurokrise, in der unser Kontinent verzweifelt zappelt, wäre eine minimale Rücksichtnahme auf den Staat, der über die weitaus größten Währungsreserven verfügt, ein Gebot elementarer Vernunft und Selbsterhaltung.
    Der Justizapparat der chinesischen Kommunisten operiert grausam und bürokratisch. Jede politische Opposition wird brutal unterdrückt. Die Todesstrafe wird oft willkürlich verhängt. Aber – ohne die Vereinigten Staaten schmähen oder eine leichtfertige Parallele herstellen zu wollen – die Perspektive, den Stimmungsschwankungen einer amerikanischen Jury vor Gericht ausgesetzt zu sein, ließe mich auch nicht ruhig schlafen. In den Kerkern Chinas wird gefoltert, doch die Erinnerungen an Abu Ghraib, an Bagram und andere amerikanische Verhörzentren, die Unfähigkeit Obamas, das Straflager von Guantánamo aufzulösen, die Praxis der CIA, verdächtige Terroristen auf dem Weg der »rendition« sadistischen Henkern in orientalischen Vasallenstaaten auszuliefern, gemahnen daran, daß nicht nur das Gute, sondern auch das Böse in jedem Menschen verwurzelt ist. Die Legende von der Erbsünde enthält mehr Wahrheit, als manche Agnostiker eingestehen wollen. Mag der Attentäter Khaled Scheikh Mohammed sich auch schlimmster Terrorakte schuldig gemacht haben, bleibt die Vorstellung unerträglich, daß dieser Mann 183 Mal der Tortur des »waterboarding« unterzogen wurde, einer ausgeklügelten Qual des simulierten Ertrinkens. Eine ähnliche Methode, »la baignoire« genannt, hatte übrigens die Gestapo an französischen Widerstandskämpfern erprobt, was wiederum nicht verhinderte, daß französische Paras – bei der »Pazifizierung« der Kasbah von Algier – auf die gleiche abscheuliche Quälerei zurückgriffen.
    Der Europäischen Union unserer Tage steht es schlecht an,
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