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Die Wellenläufer 01 - Die Wellenläufer

Die Wellenläufer 01 - Die Wellenläufer

Titel: Die Wellenläufer 01 - Die Wellenläufer
Autoren: Kai Meyer
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in einen Karren, den er an den Stauden entlangzog. Er achtete nicht auf die beiden Besucher, so als nähme er sie gar nicht wahr.
    »Kann man den anfassen?«
    »Du kannst es ja versuchen.«
    Sie warf Munk einen prüfenden Blick zu, dann streckte sie zögernd einen Finger aus und stupste gegen den Nebelleib des Geistes. Der weiße Schwaden bildete blitzschnell eine Delle um ihre Fingerspitze und wich der Berührung aus. Jolly zog die Hand hastig zurück.
    »So was hab ich noch nie gesehen.«
    Munk wirkte gelangweilt. »Wir haben jede Menge davon. Sie sind teuer in der Anschaffung, aber sie essen nicht und schlafen nicht und faulenzen nicht bei der Arbeit. Sie kosten mehr als Sklaven, sagt Dad, aber mit Sklaven will er nichts zu schaffen haben. Auf lange Sicht lohnt es sich jedenfalls.«
    Echte, leibhaftige Geister! Jolly gab sich keine Mühe, ihr Staunen zu verhehlen.
    »Der Geisterhändler sagt, sie sind auf einigen Inseln sehr beliebt. Du müsstest eigentlich schon welche gesehen haben, wenn du wirklich so weit rumgekommen bist.«
    Sie wirbelte herum. »Ich bin weit rumgekommen. Aber das .« Sie verstummte und schüttelte den Kopf.
    Der Geist ging weiter seiner Arbeit nach, ohne sich stören zu lassen. Jolly betrachtete sein Gesicht. Sie konnte deutlich Augen, Nase und Mund erkennen, und doch fehlte den Zügen jegliche Individualität. Es sah aus, als hätte jemand aus Nebel einen Menschen geformt, ohne ihm eine Spur von Persönlichkeit zu verleihen.
    »Werden wir alle irgendwann wie sie?«, fragte sie unsicher. »Ich meine, dass wir so… so gleich aussehen?«
    Munk zuckte die Achseln. »Keine Ahnung. Ich hab mich nie besonders für sie interessiert. Wenn man sie jeden Tag um sich hat . na, du weißt schon. Ich bin halt mit ihnen aufgewachsen.«
    »Und wie viele habt ihr?«
    »Ungefähr fünfzig, glaube ich. Hin und wieder verschwindet mal einer, löst sich einfach in Luft auf. Dann kauft Dad ein paar neue, und die halten wieder für eine Weile.« Er verzog gelangweilt das Gesicht. »Das ist wirklich nichts Aufregendes, ehrlich nicht.«
    Jolly strich mit einer nervösen Bewegung ihr schwarzes Haar zurück über die Schultern. Sie hatte schon Sklavenplantagen gesehen, Menschen aus Afrika, sogar aus China - aber Geister?
    Für Munk mochten Fahrten auf hoher See und das Herumklettern in der Schiffstakelage ein großes Abenteuer sein, für sie dagegen war dies hier etwas vollkommen Neues und Unbegreifliches. Nicht dass sie mit ihm hätte tauschen mögen - Gott bewahre! -, aber so etwas wie das hier war ihr noch nie untergekommen.
    Eines stand jedenfalls fest: Wenn dieser mysteriöse Händler behauptete, Geister würden auf vielen karibischen Inseln als Arbeiter eingesetzt, dann war das eine handfeste Lüge.
    »Munk!« Eine Stimme riss sie aus ihren Gedanken.
    »Ah, und unser junger Gast!«
    Ein Mann kam mit weiten Schritten durch eine Schneise zwischen den Tabakpflanzen auf sie zu - dabei ging er geradewegs durch den Geist hindurch. Das stumme Nebelwesen zerfaserte für die Dauer einiger Herzschläge, setzte sich wieder zusammen und setzte ungerührt seine Arbeit fort.
    »Dad, das ist Jolly.«
    Der Mann streckte ihr eine schwielige Pranke entgegen und schüttelte ihre Hand so kräftig, dass ihr danach die Schulter wehtat. Nach der langen Bewusstlosigkeit war sie womöglich doch schwächer, als sie gedacht hatte.
    »Guten Tag, Sir«, sagte sie und betrachtete ihn ohne Scheu. Er hatte helles Haar wie sein Sohn, das ihm bis auf die breiten Schultern fiel. Sein nackter Oberkörper war sonnengebräunt und so muskulös, dass er einen guten Seemann abgegeben hätte. Der leichte Bauchansatz verriet, dass das Geschäft mit dem Tabak nicht allzu schlecht gehen konnte, nicht einmal auf einer so abgeschiedenen Insel. Er war ungemein groß und hatte einen schwachen Akzent, der auf eine schottische Herkunft schließen ließ.
    »Meine Mary hat dich gut hingekriegt, was? Sie kennt sich aus mit Kräutern und so’m Zeug. Munk konnte es gar nicht erwarten, dass du endlich die Augen aufmachst. Wo kommst du her?«
    Haiti, wollte sie sagen, ehe ihr einfiel, dass seine Frau ja bereits die Wahrheit kannte. »Von einem Schiff. Der Mageren Maddy .«
    Sein Blick verdüsterte sich. »Bannons Schiff?«
    Jolly warf einen unsicheren Blick zu Munk, der jedoch selbst erstaunt seinen Vater ansah. »Kennst du ihn etwa?«, fragte er.
    Der Farmer nickte. »Wer hat nicht von der Maddy gehört? Hab mir schon gedacht, dass du von den Piraten kommst,
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