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Die Weiterbildungsluege

Titel: Die Weiterbildungsluege
Autoren: Richard Gris
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Freundeskreis? Sie hatten in Wirklichkeit keine Freunde, weil sie keine Kontakte pflegten.
     Smalltalk nervte meinen Vater. Er sagte: »Da wird nur der Kümmel aus dem Käse gequatscht.« Bis heute hängt mir nach, dass
     ich fürchte, Bekannte und Freunde zu stören, wenn ich sie zum Pläuschchen anrufe. Deshalb rufe ich oft gar nicht erst an.
     Die Geschichte wiederholt sich. Auch wenn ich heute ein Verständnis dafür habe, warum besonders mein Vater so reagierte. Er
     war im Außendienst und das Büro war zu Hause. Folglich hatte er mit sehr vielen Leuten beruflich Kontakt. Ihm reichte der
     Sozialstress, und er wollte Zeit für die Familie. Warum er Verwandten gegenüber Antipathien hegte, ist historisch nicht ganz
     durchschaubar. Ich hatte Glück, dass ich einen guten Diplom-Psychologen kannte, bei dem ich angesichts dieser Erfahrungen
     auf die Couch durfte. Mich.
    In der Kombination von Anlage und eigener Biografie entwickeln wir mit der Zeit überdauernde, stabile Merkmale. Die Persönlichkeitspsychologie
     unterscheidet in diesem Zusammenhang Temperament, Charaktereigenschaften und Motive. Der Motivationsforscher Steven Reiss,
     Professor für Psychologie und Psychiatrie an der State University in Ohio, nennt in seiner im Jahr 2000 veröffentlichten Untersuchung
     16 Lebensmotive, die das menschliche Verhalten beeinflussen. Diese Grundmotive isolierte er auf der Basis einer Befragung
     von über 20 000 Männern und Frauen aus den USA, Kanada und Japan. 15 Menschen unterscheiden sich im Vorhandensein und der Ausprägung dieser Motive. Besonders häufig werden in der Motivationspsychologie
     das Leistungsmotiv, das Anschlussmotiv und das Machtmotiv untersucht. Wenn nun jemand ein gering ausgeprägtes Machtmotiv besitzt,
     fehlt ihm der Antrieb, Führung, Verantwortung und Kontrolle über |30| andere anzustreben. Es fällt ihm nicht leicht, sich in Machtkämpfen zu behaupten oder gegenüber Widerständen durchzusetzen,
     geschweige denn, dass es ihm Spaß macht. Jemanden mit gering ausgeprägtem Machtmotiv in eine Führungsrolle zu bringen ist
     folglich nicht nur seelische Grausamkeit, sondern auch nicht von Erfolg gekrönt. Motive lassen sich nämlich nicht trainieren,
     auch wenn Motivationstrainings zu diesem Eindruck verleiten.
    Ebenfalls nicht an- oder wegtrainierbar sind Charaktereigenschaften. Die Persönlichkeitspsychologie beschreibt mit Charaktereigenschaften
     lang überdauernde, stabile Merkmale, wie zum Beispiel Großzügigkeit, Geselligkeit, Gewissenhaftigkeit, Impulsivität, Ich-Bezogenheit
     oder Zurückhaltung. Wie stabil menschliche Eigenschaften sind, weiß eigentlich jeder, der mit anderen Menschen unter einem
     Dach zusammenwohnt. Ganze Wohngemeinschaften zerbrechen daran, dass der eine stets picobello das Klo putzt und der andere
     das Badezimmer immer wie eine Mülldeponie hinterlässt. Und selbst intensivste Auseinandersetzungen führen nicht zum Erfolg.
     Deshalb ist es umso erstaunlicher, dass in der Wirtschaft mit diversen Personalentwicklungsmaßnahmen Eigenschaften verändert
     werden sollen. Besonders beliebt sind Teamtrainings, um das Miteinander im Arbeitsalltag wirkungsvoller zu gestalten. In solch
     eine Maßnahme kam auch ein 46-jähriger Ex-Vertriebsleiter. Ich geriet mit ihm zufällig bei einem Networking-Treffen ins Gespräch.
     Als ich ihm erzählte, dass ich Trainer bin, wich er nach hinten zurück, als hätte er einen Vampir vor sich. Eigentlich wäre
     an dieser Stelle das Gespräch zu Ende gewesen, wenn ich nicht gefragt hätte, was ihm passiert sei. Es stellte sich heraus,
     dass er von Trainern und Seminaren komplett »geheilt« war. Er arbeitete einst in einem Großkonzern im Bereich Telekommunikationstechnik.
     Der Jahresumsatz der Firma lag bei 100 Millionen Euro. Das Unternehmen wollte jedoch schnell weiter wachsen. Deshalb wurden
     für fünf neue Bereiche Leiter eingestellt. Einer davon war er. Psychologisch gesprochen waren es offenbar alle starke Individualisten
     mit Hang zur Egozentrik. |31| Jeder hatte seine eigene Ansicht und liebte es, im Mittelpunkt zu stehen. Oder anders ausgedrückt: Du sollst keine andere
     Meinung haben neben mir. »Die Seminare sollten uns zusammenbringen«, berichtete der Ex-Vertriebsleiter. Er sah sich selbst
     übrigens nicht als Egozentriker. Eine normale Reaktion: Die Schwächen der anderen erkennt man üblicherweise bei sich selbst
     als Stärken. Und der Egozentriker hat von sich das Bild, dass er mit der lobenswerten
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