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Die Weiterbildungsluege

Titel: Die Weiterbildungsluege
Autoren: Richard Gris
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weiß, wie sich sein
     Selbstbild entwickeln würde, wenn ich ihm als Vater nun gesagt hätte, dass für Väter andere Regeln gelten als für Anderthalbjährige
     und er nicht berechtigt ist, mir Socken zu verordnen.
    Einstellungen werden durch Erfahrungen gefestigt. Es fängt ganz harmlos an, wie bei Marvin, dem einjährigen Sohn einer Bekannten.
     Der Junior ist noch nicht lange auf der Welt, hinterlässt aber optisch den Eindruck eines »geduckten Dackels«. Vielleicht
     weil zur Familie auch ein Rauhaardackel gehört, der mit eiserner Faust regiert wird. Damit jedoch kein falscher Eindruck entsteht:
     Die Eltern sind liebe Menschen und der Rauhaardackel bekommt die Führung, die so ein drahtiges Biest eben braucht.
    Eine Szene aus dem Alltag von Marvin soll verdeutlichen, wie er aufwächst. Der Junge ist immer ein bisschen zu langsam, zu
     unbeholfen, zu schüchtern oder zu klein – sagen seine Eltern. Während gleichaltrige Kumpane problemlos in eine Plastikspielkiste
     klettern und darin im Spielzeug planschen, steht der fast gleich große Marvin davor, als wäre es ein unüberwindbares Hochhaus.
     »Ja, ja, der Marvin«, seufzt dann seine Mutter. Ihre Freundinnen sind schon dazu übergegangen, durch Lügen Trost zu spenden.
     »Ja, dein Sohn ist genauso groß wie unsere Kinder« (wenn man sie ein bisschen in die Knie gehen lässt). Oder: »Ja, ja, der
     Marvin läuft hervorragend« (auch wenn er dauernd umkippt). Kurzum, Marvins |34| Mutter scheint stets im Kopf zu haben: »Mein Kind ist nicht gut genug. Es kommt im Vergleich mit den anderen nicht mit.« Sie
     sieht dauernd Defizite und übt Druck auf den kleinen Mann aus. Dadurch ergibt sich eine selbsterfüllende Prophezeihung. Denn
     so minderbemittelt ist der melancholisch dreinblickende Knabe in Wirklichkeit gar nicht. So gelang einer anderen Mutti recht
     schnell, dass auch Marvin in die besagte Spielzeugkiste hineinkam. Er brauchte bloß ein bisschen positiven Zuspruch und Motivation.
    Als Außenstehender mag man den Kopf über diese Eltern schütteln. Es liegt so klar auf der Hand, wie deren Botschaften nachteilige
     Einstellungen prägen. Aber böse Absicht steckt nicht dahinter. Die Eltern meinen es gut. Genau wie die Eltern einer jungen
     ehrgeizigen Dame namens Karina. Die beiden betrieben Landwirtschaft und waren sehr bodenständige Menschen. Sie impften ihrer
     Tochter Werte ein wie »Du musst deine Pflicht erfüllen« oder »Was man anfängt, muss man auch zu Ende führen«. Ein Kind übernimmt
     solche starken Botschaften kritiklos, weil es von den Eltern abhängig ist. Sich nicht an die Regeln zu halten führt zu Sanktionen
     und in schlimmen Fällen zum Beziehungsabbruch.
    Karina lernte in ihrem Umfeld auf dem Bauernhof, dass es wichtig ist, allen Erwartungen gerecht zu werden. Denn nur so bekam
     sie Liebe und Anerkennung. Für jeden Menschen und besonders für ein Kind ist das existenziell. Nach dem Abitur wollte Karina
     Lehrerin werden. Als sie den Eltern ihren Studienwunsch offenbarte, reagierten diese mit Ablehnung. Es sei nichts Handfestes.
     Trotz allem ging sie ihren Weg. Sie war fleißig und arbeitete hart. Sie wollte sich und ihren Eltern beweisen, dass ihre Entscheidung
     richtig und gut war. Nebenbei sang sie im Kirchenchor, arbeitete im Pfarrgemeinderat mit, leitete einen Kinderchor und spielte
     Klarinette in der Blaskapelle. Abends verdiente sie sich Geld in einem Büro. Freie Zeit, in der sie sich zurücklehnen konnte,
     räumte sich Karina nicht ein. »Ich wollte es allen recht machen. Ich habe nicht Nein sagen können. Was hätten sie denn ohne
     mich in der Blaskapelle |35| gemacht«, erklärt Karina, »es gab doch nur eine Klarinetten-Spielerin.«
    In jeder freien Minute lernte sie für das Studium. Dabei baute sich ein Teufelskreis im Kopf auf. »Je mehr ich lernte, desto
     mehr bekam ich das Gefühl, zu wenig zu lernen.« Auch wenn Karina mit den Kräften am Ende war, arbeitete sie weiter. Wie besessen.
     Lieber Leser, Sie ahnen sicher bereits, dass dieser Lebensstil auf Dauer nicht gut gehen kann. Karina war aber in ihrem Persönlichkeitssystem
     gefangen. Ihr war nicht bewusst, wie sie sich selbst ans Ende ihrer Kräfte brachte. Ihr Körper forderte Tribut. Sie brach
     zusammen und brauchte ein Jahr, um wieder ins normale Leben zurückzukehren. Ein intensiver therapeutischer Prozess half ihr
     dabei. Ihr wurden die Zusammenhänge für ihr Handeln bewusst. Und es gelang ihr fortan immer besser, sich lieber etwas
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