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Die Weite fühlen - Solèr, P: Weite fühlen

Die Weite fühlen - Solèr, P: Weite fühlen

Titel: Die Weite fühlen - Solèr, P: Weite fühlen
Autoren: Pia Solèr
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wir einen Wanderer mit rotem Rucksack sichteten. Er lief den Grat entlang, und ich sagte noch zu Gabriel: »Der kommt heute Abend bei meiner Hütte vorbei.« Er kam aber nicht, und ich hatte ihn auch vergessen. Am nächsten Tag, als ich auf der Wiese unterwegs war, bekam ich einen Anruf von einem Mitglied der Rettungskolonne, bei der auch ich dabei bin. »Hast du gestern jemanden mit rotem Rucksack gesehen?« – »Ja, der lief ziemlich zielbewusst den Grat entlang.« Der Mann war am Abend nicht heimgekommen. Die Familie hatte eine Rettungskolonne und die Rega benachrichtigt. Aber die Rega fand ihn nicht. So wurden wir aufgerufen. Also liefen wir in Gruppen in verschiedene Richtungen. Es schneite leicht. Auch eine Wahrsagerin wurde eingeschaltet. Sie meinte, er würde noch leben, hätte kalt und wäre in einer Schafalp mit Steinzäunen. Super, sehr genau. Wir fanden Spuren am ersten Tag, doch keinen Mann. Es wurde intensiv gesucht, und die Wahrsagerin kam auf immer verrücktere Ideen, sie führte uns immer wieder in die Irre. Ein gesunder Menschenverstand wäre nützlicher gewesen.
    Eine Gruppe fand am ersten Tag einen toten Steinbock, den sie dem Wildhüter meldeten. Am dritten Tag brachen wir Richtung Pez Scharboda auf, wir waren nicht weit oben, als die Funkmeldung kam, dass der Wildhüter einen Schuh gesichtet hatte, ganz in der Nähe des Steinbocks. Die Rega flog dorthin und fand die Leiche des abgestürzten Mannes. Den Sturz konnte er nicht überlebt haben. Die Kollegen der Rettungskolonne zogen ab, nachdem sie mir all ihre feinen Esswaren, die sie im Rucksack hatten, zurückgelassen hatten. Als sie weg waren, fiel die Spannung von mir ab, und ich weinte schonungslos. Mein Lieblingsberg hatte einem Mann das Leben genommen. Ich kannte ihn nur flüchtig, und doch war er mir, während wir ihn suchten, total nahe gewesen.
    Nun, ich war noch nie auf dem Piz oben gewesen. Es hatte ein Schatten über ihm seit diesem Ereignis gelegen. Eines Tages sagte ich mir: So, jetzt steige ich hoch, um wieder Frieden zu schliessen. Ich ging vom Pez Capiala hinauf, wo auch der Mann gewandert war. An dem Ort, wo er abgestürzt war, musste ich mich sehr zusammen nehmen, die Platten dort sind sehr ausgesetzt. Doch ich schaffte den Berg. Die Frühlingsblumen waren im August in schönster Pracht, am Jubilieren. Der Mann hatte sich einen schönen Ort zum Sterben und Frieden Finden ausgesucht. Seitdem war ich mehrere Male auf dem Berg oben, heuer zusammen mit einem 85-jährigen Mann und seiner Nichte, dann ein paar Male alleine, mit meiner Schwester und Familie und im Winter mit den Skiern.
    Im Winter ist es eine sehr lange Tour. Da muss man von Vrin fast alles laufen. Einmal, wir waren in der gewohnten Formation unterwegs, war die Stimmung nicht so ausgelassen wie sonst. Auf dem Berg oben sagte ich: »Warum seid ihr alle so still?« Meine Kollegen schwiegen, so gab ich auch die Antwort: »Es ist der steile Hang, der Sorgen macht, oder?« Niemand widersprach. Wir nahmen bald wieder Abschied von der schönen Aussicht über etliche Bergketten und ins Tal hinunter, liefen zurück zum Skidepot und – ja, der Hang, der ist fast senkrecht und lang. Bei sicheren Verhältnissen ein Traum, doch wann weiss man das schon so genau? Ein Risiko ist immer da in den Bergen. Carlo machte den ersten Versuch. Es ging, keine Lawine löste sich, wir fuhren einer nach dem anderen hinab und freuten uns, als wir unten angekommen waren.
    Mit T . war ich vor ein paar Jahren oft auf Skitour, er war da schon 70-jährig oder so. Kommst du morgen auf Zamuor? Ich hatte Zeit, sagte zu. Doch ich konnte nicht einschlafen. In Gedanken liess ich mir die Strecke durch den Kopf gehen. Besonders eine Stelle schien mir unheimlich. Oj, ist das sicher bei diesen Verhältnissen, mit den Verwehungen, die es dort sicher gibt? Am Morgen ging ich dann doch mit, Sep kam auch und einer, den wir nicht gut kannten. Wir liefen Diesrut hinauf und kamen oberhalb der Hütte von Zamuor an. T . und ich waren vorne, die anderen kamen mit Abstand hinterher. Wir blieben stehen und überlegten, ob wir bald mal Pause machen sollten. Als wir dann nach oben schauten, sahen wir, dass Verwehungen sich gelöst hatten. Riesige Schneebrocken kamen auf uns zu. Ich lief, so schnell ich mit den Fellen konnte, zurück, schaute mich immer wieder um und sah, wie T . stehen blieb und den langsam fallenden Brocken zusah. Ich dachte, oh nein, lief aber weiter, bekam einen Schneebrocken ans Bein, dachte, wenn ich
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