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Die Weite fühlen - Solèr, P: Weite fühlen

Die Weite fühlen - Solèr, P: Weite fühlen

Titel: Die Weite fühlen - Solèr, P: Weite fühlen
Autoren: Pia Solèr
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mal: Besuch auf der Alp ist wie ein Fisch – am ersten Tag ist er frisch und fein, am dritten fängt er an zu stinken. Ja, Besucher können sich nur teilweise ins Hirtenleben einfühlen. Wollen sie mitwandern, sind sie oft ein Klotz am Bein. Da ist es zu steil, dort zu weit, dann brauchen sie wieder eine Pause, und so weiter. Wenn die Situation nicht drängt, geht das. Aber das beste Team sind Hund und Hirte, spontan und je nach Situation. Jeder Tag ist ein Abenteuer, vom Wetter und den Launen der Tiere geprägt. Auch Besucher können überraschen, nicht immer melden sie sich an, sondern stehen plötzlich vor der Hütte. Haben sie Glück, bin ich da. Es ist aber auch schon vorgekommen, dass sie stundenlang vergebens auf mich gewartet haben. Das Gebiet ist riesig. Mich zu finden, ohne mein Wege zu kennen – unmöglich.
    Hirten haben einen niedrigen Status. Oft werden sie Aussteiger genannt, oder man meint, sie kämen mit anderen Menschen nicht zurecht. Aber diese Ansichten zählen nicht, denn Hirten sind selten Herdenmenschen. Introvertiert und illoyal müssen sie deshalb nicht sein. Meistens sind sie intelligent, oft auch Akademiker. Sie lieben die Natur, und dazu gehören auch die Menschen.
    Im Dorf. Es schneit. Ich sorge für die Schafe eines Bauern, der einen Unfall hatte. Ich muss Lämmer und Schafe in zwei Ställe sortieren. Die Tiere sind schnell und stark. Wieder einmal verdrehe ich mir einen Finger. Mich erinnert das an einen schlimmen Unfall auf der Alp. Auch da hatte ich mir den Finger verdreht, als ich weinend halbtote, abgestürzte Schafe töten musste. Sie lagen in einem Tal, in dem Wasser fliesst. Keine schöne Erinnerung. 13 Tiere haben dort den Tod gefunden, und jedem hatte ich einen Sommer versprochen. Es tat mir unendlich weh, es war mein erster Sommer auf der Schafalp. Erst am Abend dann, als die Schafe mit dem Heli weggeflogen waren, merkte ich, dass der Finger krumm war und schmerzte.
    Bin heute ein wenig traurig. Mara, meine alte Hündin, ist von uns gegangen. Auch Treuia, die Junge, trauert um sie. Es tut weh, obwohl ich am Schluss, als Mara nur noch vor sich hin vegetierte und ganz, ganz ruhig war, gewünscht hatte, sie möge erlöst werden. Jetzt ist sie im Hundehimmel und hat keine Schmerzen mehr. Sie war ein guter Border Collie, ein wunderbarer Hirtenhund. Sie hat mit mir gelacht, und wenn ich traurig war, hat sie mich getröstet. Ich habe sie gelobt und mit ihr geschimpft. Ihre Freundschaft kannte keine Grenzen. Heute Morgen habe ich den Tierarzt angerufen und gebeten, vorbeizukommen und sie zu erlösen. Sie war aber schneller und schlief ein, bevor er kam. Das war mein Wunsch für sie gewesen: ein natürlicher Tod.
    Die Hunde mögen mich. Wenn ich im Dorf unterwegs bin, ist meistens eine ganze Schar dabei. Ich mag sie auch, sie sind die treuesten Freunde.
    Mit den Kalendertagen habe ich Mühe. Selten weiss ich genau, wo wir gerade sind. Auf der Alp ist das kein Problem, da zeigen Sonne und Vegetation die Stunden und Jahreszeiten an. Es gibt aber auch Wintereinbrüche im Sommer. Da hilft keine Kalenderangabe.
    Mein Finger ist geschwollen, er schmerzt aber nicht. Indianer kennen keine Schmerzen, sagt der Bauer, bei dem ich arbeite. Der Arzt unseres Tals meinte einmal, dass die Leute aus unserem Dorf erst zum Doktor kommen, wenn sie tot sind. Ja, wir sind zäh. Die Landschaft färbt ab. So strapazieren wir wenigstens nicht die Krankenkassen.
    Das Leben im Dorf. Jeder kennt jeden oder auch nicht. Man meint einander zu kennen. Fällt jemand aus der Norm, sorgt er für Gesprächsstoff. Jeder komponiert noch etwas hinzu, bis die Realität verdreht und auf den Kopf gestellt ist. Eine Hirtin, die ihren Weg geht, ist ein idealer Köder für ihre Fantasien. Alleine auf der Alp, man weiss nicht genau, was die da macht. Ein Nährboden für Spekulationen. Aber das ist nur eine Seite des Dorflebens. Es gibt auch eine andere. Wir helfen einander, wo Hilfe oder Trost nötig sind. Stirbt zum Beispiel ein geliebter Mensch, trauern alle mit der Familie und den Freunden. Die Isolation ist nicht so stark wie in den Städten. Mein Bruder wohnt in Los Angeles. Er meinte einmal, du vereinsamst ja, wenn du so viel alleine bist! Ich war damals bei ihm zu Besuch und sagte, hier in Los Angeles, wo man die Nachbarn nicht kennt und die Kriminalität spürt, hier würde ich vereinsamen. Bellt ein Hund um Mitternacht, höre ich einen Knall, und das Gebell verstummt. Mir bleibt das Herz stehen, mein Bruder empfindet das
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