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Die Weite fühlen - Solèr, P: Weite fühlen

Die Weite fühlen - Solèr, P: Weite fühlen

Titel: Die Weite fühlen - Solèr, P: Weite fühlen
Autoren: Pia Solèr
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Vater Kühe, später übernahmen sie meine Schwester und ihr Mann. Sie haben Anguskühe, Mutterkühe. Oft, mit viel Überredungskraft, durfte ich ein paar zum Ausfüttern dabehalten. Ein Genuss für mich. Am Anfang waren wir vier Bauern. Ich durfte immer am längsten bleiben. Bis Mitte Oktober bleibt auch der Alfred, der den Emil eingestellt hat. Er ist pensioniert und schaut nach den Kühen. Und es bleiben ein paar Angus und ich, solange es geht. Es ist auch schon passiert, dass die Kühe bei Vollmond oder Schnee von alleine zurück ins Dorf sind. Die Kühe sind halt auch modern geworden.
    In Vanescha habe ich viel erlebt. Einmal, als der Emil selber noch Milchkühe hatte, kochten wir abends zusammen. Er kam oft zu mir, um sich zu unterhalten. An diesem Abend lag in der ganzen Stube kardierte Wolle herum, ich war am Filzen. Emil meinte: »Ich gehe morgen zurück ins Dorf, sie melden Schnee.« – »Na gut, dann gehst du halt, ich bleibe.« Am nächsten Tag ging er wirklich, ich putzte seinen Stall, versorgte meine Kühe, das Wetter war schön. Abends ging ich friedlich ins Bett. Am Morgen erwartete mich eine grosse Überraschung. 80 Zentimeter Schnee hatten alles zugedeckt, und es schneite weiter. Zuerst schaufelte ich den Weg zum Stall frei und zum Brunnen, um die Tiere zu tränken. Dann rief Anton, mein Schwager, an. Er komme, um die Kühe zu holen. Blitzschnell räumte ich auf. Anton musste eine Strecke, die man bei normalen Verhältnissen eineinhalb Stunden benötigt, mit all dem Neuschnee schaffen. Als er endlich da war, fanden wir beide, wir könnten die Kühe so nicht hinaustreiben, denn die Lawinen kamen bereits, und was wäre, wenn wir mit den Tieren stecken blieben? »Jetzt kannst du auch noch da bleiben«, sagte ich zu ihm. Anton wollte aber doch nach Vrin zurück. Ich schaute ihm nach bis zum Wald, da sind auch steile Hänge und danach hat es noch etliche gefährliche Täler. Ich betete und hoffte, dass er heil daheim ankomme. Immer wieder rief ich meine Schwester an, ob er schon da sei, aber er war noch immer unterwegs. In Vanescha hat es eine öffentliche Telefonkabine, superpraktisch, denn Natel-Empfang ist keiner da, und damals besass ich auch gar keines. Endlich, rief meine Schwester an, sei er angekommen. Ein Stein fiel mir vom Herzen. Jetzt konnte ich die verrückte Situation geniessen. Die Tiere sind friedlich und Heu ist genug da.
    Am nächsten Tag schaue ich in der Telefonkabine nach. Dass meine Mutter nicht angerufen hat, wundert mich. Die Leitung ist tot. Na gut, jetzt bin ich ganz abgeschnitten. Kein Grund zur Panik, ich gehe meiner Arbeit nach, Esswaren sind auch noch genug da. Am vierten Tag ist der Schnee in sich zusammen gefallen, es ist Ende Oktober. Ich sehe, dass mein Schwager, Gabriel und Linus am Pfaden sind. Gut, ich hole auch die Schaufel und gehe ihnen entgegen. Nun bringen wir das Vieh hinaus. Zuerst führt eine Hinkende die kleine Herde. Überall sind Lawinen abgegangen. Die Tiere sinken ein, und wir kommen nicht vorwärts. Dann übernimmt eine jüngere Kuh die Führung. Sie geht überall durch, und so kommen wir gut an. Die Führerin gebärt eine Woche später Zwillinge.
    Im Herbst darauf hat es dann noch mehr Überredungskraft gebraucht, um mit ein paar Kühen in Vanescha bleiben zu können. Meine Freunde und Verwandte hatten Angst gehabt um mich. Gut, ich hätte ein Bein brechen und keine Hilfe holen können. Das war mir schon bewusst. Aber der Weiler war so schön, so unberührt, rein und still.
    Einmal bin ich bis anfangs Dezember in Vanescha geblieben. Das Wasser gefror in den Eimern in der Küche, die Eisblumen am Fenster schmolzen erst, wenn die Sonne sie erwärmte, obwohl der kleine Eisenofen heiss war. Die Vöglein kamen auf den Fenstersims, eine Gemse suchte ganz in der Nähe Gras. Wäre ich noch ein paar Wochen oder Monate geblieben, hätte mich die Wildnis wohl ganz in sich aufgenommen?
    Nun haben wir einen Specksteinofen. Die Küche ist dicht gemacht, ein neues Schlafzimmer ausgebaut und die Decke des alten Schlafzimmers ist erhöht. Der Wind bläst jetzt nicht mehr über mein Haar hinweg, wenn ich schlafe. Und wenn Regen fällt, muss ich ganz gut zuhören, um ihn wahrzunehmen. Die Toilette ist immer noch im Stall, und Wasser holen wir vom Brunnen. Ein wenig Nostalgie muss sein auf der Alp. Kerzenlicht am Abend macht sie noch romantischer. Ach, wahrscheinlich könnte ich in Vanescha leben. Ich kann ohne Komfort und Luxus glücklich sein. Ein heisses Bad kann ich
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