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Die Weite fühlen - Solèr, P: Weite fühlen

Die Weite fühlen - Solèr, P: Weite fühlen

Titel: Die Weite fühlen - Solèr, P: Weite fühlen
Autoren: Pia Solèr
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als normal. Wenn man dort lebt, muss man das so auffassen, sonst geht man wahrscheinlich kaputt.
    Die Einsamkeit auf der Alp ist ganz anders, ich bin ja nie alleine, die Hunde sind immer bei mir und rundum sind Tiere, Elfen und Feen. Aber auch hier braucht es Stärke, um mit allem fertig zu werden. Der grösste Feind liegt in einem selber. Ihn oder den Freund in sich, beide kann man nähren. Die Auseinandersetzung mit sich selber ist unumgänglich. In der Stadt oder im Dorf kann man davor besser flüchten und sich ablenken. Man kann sich faul berieseln lassen.
    Was ist gut, was ist schlecht? Ist nicht alles Gott? Er ist in allem und überall und hat unendlich viele Gesichter. Mitakuye Oyasin – alles ist eins. Das kurze Gebet der Lakota-Indianer bedeutet auch: Für alle meine Verwandten – und meine Verwandten sind alle Wesen auf der Erde und sonstwo. Religionen sind ein heisses Thema. Besser, ich fange gar nicht damit an. Ich kann mir gut vorstellen, dass Gott über unsere Dummheiten staunt, lacht und den Kopf schüttelt, aber er straft uns nicht, wir strafen uns schon selber mit dem, was wir denken und tun. Ein Tag auf der Alp. Nieselregen, kalte Bise, neblig. Der Sommer hat erst begonnen, ich bin noch auf der unteren Weide. Die Schafe wollen hinauf, aber ich will Grenze halten, sie noch zwei, drei Tage unten haben, denn wo sie hinziehen, gibt es keinen Zaun. Da es regnerisch ist, sind sie eher spät unterwegs und nicht so schnell. Ich packe den Rucksack mit Kleidern und laufe – mit Migo, dem Hund – parallel zu den Schafen. Auf der Rinderalp warte ich ab, bis die Schafe hochsteigen, dann muss auch ich aus dem Schutz des grossen Stalles und hinauf wandern. Laufe langsam, damit ich in den Regenkleidern und Stiefeln nicht ins Schwitzen komme. Als ich die Schafe überhole, bläst mir eine kalte Bise ins Gesicht, wie feine Messerklingen. Ich packe die Kleider aus und ziehe sie an. Wie halte ich hier Grenze bis am Abend? Es ist erst etwa neun Uhr. Ich friere bis zu den Knochen, und die Finger sind schon ganz klamm. Kommt Not, kommt Rat. Mit Hilfe der Zeitungen, die ich im Rucksack habe, mache ich ein Feuer. Da ich hier über der Waldgrenze bin, habe ich immer Zeitungen dabei, und wenn ich kalte nasse Füsse habe, wärme ich sie darin.
    Ich sammle Alpenrosenstauden, lege Steine rundum, nehme das Papier und zünde es an. Es dauert lange, bis die nassen Alpenrosen anfangen zu rauchen. Und doch entsteht ein winziges Feuer, das schon leicht wärmt. Habe alle Hände voll zu tun: Alpenrosen sammeln, sie ums Feuer legen, damit sie trocknen, wieder blasen, das Feuer schüren. Dann wieder Schafe kehren. Migo hält wunderbar die Grenze, er mag das Feuer aber nicht. Weiter oben ruhen sich zwei Hirsche aus. Der Hund bellt, ich pfeife und rufe. Die Hirsche bleiben trotzdem liegen. Langsam werden auch die Steine rundum warm, und ich habe einen herrlichen Ofen, der zwar mehr raucht als brennt, aber doch wärmt.
    Die Stunden gehen im Nu vorbei, nur Migo wird es langsam langweilig. Er will heim, ich nicht. Ich staune über die Alpenrosen, ein Wald in Miniatur mit Blüten. Gegen fünf Uhr hat Migo wirklich genug, und er beginnt ohne mein Zutun die Schafe den Hang hinab zu treiben. Also gut, dann muss eben auch ich den warmen Ofen verlassen und schauen, dass Migo alle mitnimmt. Den Hirschen wird der Krach jetzt zu gross, sie stehen auf und springen davon. Meine Kleider riechen nach Rauch.
    Ich und Migo gehen zur Hütte, wo mein Vater das Nachtessen vorbereitet hat. Er fragt, wo wir so lange waren. Den Rauch des Feuers hat er nicht gesehen. Obwohl die Übersicht von Vanescha aus sogar besser ist als die von der Alphütte. Das Maiensäss gehört ihm. Im Frühling schaut er hier zu den Mutterkühen, bis sie auf die Alp gehen. Danach melkt er meine Ziegen und kocht, bis ich auf die Alp ziehe. Vanescha ist ein Stück Heimat für mich. Der kleine Weiler ist nur vom Frühling bis zum Herbst bewohnt. Im Sommer heuen die Bauern, die hier Land besitzen. Das meiste Heu fahren sie ins Dorf, und von dort bringen sie den Mist. Heute geht das, weil die Strasse ausgebaut ist. Früher blieb das ganze Heu im Weiler, und die Tiere wurden bis im Februar ausgefüttert. Bis zu zehn Bauern oder mehr waren da. Heute bringen noch zwei das Heu in den Stall, um auszufüttern, zwei andere führen das Heu wieder ins Dorf. Auch hier, zuhinterst im Tal, sind wir modern geworden.
    Seit meinem 16. Lebensjahr bin ich im Herbst in Vanescha geblieben. Früher hatte mein
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