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Die Wasserratte von Wanchai / eBook (German Edition)

Die Wasserratte von Wanchai / eBook (German Edition)

Titel: Die Wasserratte von Wanchai / eBook (German Edition)
Autoren: Ian Hamilton
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einzuschlafen versuchte, hatte sie immer noch Tams Stimme mit dem allzu vertrauten Unterton der Verzweiflung im Ohr. Doch sie verdrängte den Gedanken daran. Bis sie sich seines Problems annahm, war es eben nur das: sein Problem.

2
    U m sieben Uhr wachte Ava auf, sprach ihre Gebete, machte zehn Minuten Stretching und ging dann in die Küche, um sich mit heißem Wasser aus der Thermoskanne einen Instantkaffee zuzubereiten. Sie fühlte sich zwar als Kanadierin, behielt jedoch die Gepflogenheiten ihrer Mutter bei, wie den stets gefüllten Reiskocher und die Thermoskanne. Avas Freunde machten sich über ihren Kaffeegeschmack lustig, aber das war ihr egal. Sie hatte nicht die Geduld, sich normalen Kaffee aufzubrühen, und hasste Verschwendung; außerdem hatte sie sich an den Geschmack gewöhnt.
    Sie gab ein Tütchen Starbucks- VIA -Instantkaffee in eine Tasse, goss das Wasser darüber und ging zur Tür, um sich den Globe and Mail zu holen. Danach setzte sie sich aufs Sofa, schaltete den Fernseher ein und schaute sich auf dem chinesischen Lokalsender WOW TV ein Morgenmagazin auf Kantonesisch an, das von zwei Sprechern moderiert wurde: einem ehemaligen Komiker aus Hongkong, der sein Haltbarkeitsdatum in der Provinz hinauszuzögern hoffte, und einer hübschen jungen Frau ohne Showbiz-Stammbaum. Sie war zurückhaltend und strahlte Intelligenz und Klasse aus – eine eher seltene Kombination bei Frauen im chinesischen Fernsehen. Ava schwärmte ein wenig für sie.
    Als die Sendung für einen Nachrichtenüberblick unterbrochen wurde, wählte sie Onkels Handynummer. In Hongkong war es früher Abend. Mittlerweile hatte er das Büro mit Sicherheit verlassen, hatte sich vielleicht eine Massage gegönnt und saß jetzt vermutlich beim Abendessen in einem Hotpot-Restaurant der Spitzenklasse in Kowloon in der Nähe des Peninsula Hotels.
    Beim zweiten Klingeln nahm er ab. »Onkel«, sagte sie.
    »Ava, genau zur rechten Zeit.«
    »Andrew Tam hat angerufen.«
    »Welchen Eindruck hattest du von ihm?«
    »Sein Englisch ist ausgezeichnet. Und er war außerordentlich höflich.«
    »Wie seid ihr verblieben?«
    »Ich treffe mich heute mit einer Frau, die Informationen über die verschwundenen Gelder hat, danach überlegen wir, was zu tun ist.«
    Onkel zögerte. »Von meiner Seite aus ist es etwas komplizierter. Du musst entscheiden, ob wir den Auftrag annehmen.«
    Ava versuchte sich zu erinnern, ob sie einen derartigen Entschluss je allein getroffen hatte. Noch nie. »Warum?«, fragte sie.
    »Tam ist der Neffe eines alten, sehr engen Freundes. Wir sind zusammen in der Nähe von Wuhan aufgewachsen, und er war einer der Männer, die mit mir von China nach Hongkong geschwommen sind.«
    Die Geschichte seiner Flucht vor dem kommunistischen Regime hatte Ava schon oft gehört. Über die Jahre war die Gefahr, der Onkel und seine Freunde sich während jener acht Stunden im Südchinesischen Meer ausgesetzt sahen, zu einer fernen Erinnerung verblasst, doch die damals entstandene Bruderschaft ging ihnen auch heute noch über alles. »Also ist es was Persönliches?«
    »Ja. Weil ich wusste, dass es mir in dieser Sache schwerfallen würde, objektiv zu sein, hielt ich es für das Beste, wenn der Neffe dir selbst erzählt, was passiert ist, damit du entscheiden kannst, ob der Auftrag Gewinn bringt. Und Ava – wenn er keinen Gewinn bringt, nimm ihn nicht an.«
    »Was ist mit unserer Provision?«, fragte sie. Normalerweise behielten sie dreißig Prozent des wiederbeschafften Geldes und teilten die Summe fünfzig-fünfzig.
    »Du kannst deinen Anteil verlangen … ich verzichte. Er ist ein zu enger Freund.«
    Das hätte er ihr nicht sagen sollen. Es machte das Ganze noch persönlicher, dabei versuchten sie immer, Persönliches von Beruflichem zu trennen.
    »Ruf mich nach dem Treffen an«, bat Onkel.
    Ava hängte ein, räumte die Wohnung auf, beantwortete E-Mails, bezahlte offene Rechnungen und informierte sich über Pauschalreisen für den Winterurlaub. Sie überlegte, was sie zum Treffen anziehen sollte, und da sie niemanden beeindrucken musste, entschied sie sich für ein schwarzes T-Shirt von Giordano und eine schwarze Adidas-Trainingshose. Kein Make-up, kein Schmuck.
    Sie betrachtete sich im Spiegel: 1,62 Meter groß, um die 52 Kilo, schlank, nicht zu dünn. Beine und Po waren dank Jogging und Bak-Mei-Training wohlgeformt. Sie hatte für eine Chinesin ungewöhnlich große Brüste, sodass sie keinen Wonderbra brauchte. Die sportliche Kleidung verdeckte
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