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Die Wasserratte von Wanchai / eBook (German Edition)

Die Wasserratte von Wanchai / eBook (German Edition)

Titel: Die Wasserratte von Wanchai / eBook (German Edition)
Autoren: Ian Hamilton
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jedoch ihre weiblichen Formen, was sie kleiner und jünger wirken ließ. Manchmal war das von Vorteil. Für den Fall, dass etwas anderes gefragt war, besaß sie eine Auswahl schwarzer, schmalgeschnittener Leinen- und Baumwollhosen, knielanger Bleistiftröcke sowie Blusen von Brooks Brothers in diversen Farben und Schnitten, die ihre Oberweite vorteilhaft zur Geltung brachten. Die Blusen bildeten zusammen mit Hosen, Make-up und Schmuck ihr Businessoutfit: attraktiv, elegant, seriös.
    Um elf rief sie an der Rezeption an, damit man ihren Wagen aus dem Parkhaus holte.
    Avas Eigentumswohnung lag in Yorkville, im Herzen von Toronto. Ähnlich dem Londoner Viertel Belgravia, der Gegend rings um den New Yorker Central Park oder Victoria Peak in Hongkong befanden sich hier die teuersten Immobilien der Stadt. Sie hatte mehr als eine Million Dollar für die Wohnung bezahlt – in bar. Ihre Mutter, Jennie Lee, war über die Wahl ihres Wohnortes hocherfreut, und platzte fast vor Stolz, weil ihre Tochter keine Hypothek aufnehmen musste. Zur Wohnung gehörte ein Parkplatz, auf dem sie ihren Audi A6 abstellen konnte. Im Grunde war das Auto reine Geldverschwendung. Fast alles, was sie brauchte, war bequem zu Fuß oder in fünf Minuten mit der U-Bahn erreichbar. Sie benutzte den Wagen nur, wenn sie ihre Mutter in Richmond Hill besuchte.
    Um zehn nach elf stand ihr Wagen bereit. Während Ava nach Osten fuhr, kam sie an Fünfsternehotels, unzähligen Restaurants, Antiquitätenhändlern, Kunstgalerien und Nobelboutiquen wie Chanel, Tiffany, Holt Renfrew und Louis Vuitton vorbei – Geschäfte, die sie selten betrat. Doch sie wusste, wenn sie dort den Namen ihrer Mutter erwähnte, würde man sich vor Beflissenheit überschlagen.
    Sie fuhr Richtung Norden nach Richmond Hill, wo sie ausnahmsweise nicht von zähfließendem Verkehr aufgehalten wurde, und erreichte das Einkaufszentrum eine halbe Stunde vor der vereinbarten Zeit. Es war nach einem Hongkonger Einkaufszentrum benannt und sah auch genauso aus; das dreistöckige Hauptgebäude lag direkt am Highway 7. Den Parkplatz dahinter säumten Geschäfte, die Heilkräuter, DVD s oder Backwaren verkauften, und Imbisse, die alle möglichen asiatischen Gerichte anboten.
    Es gibt viele chinesische Einwanderer in Toronto – mehr als eine halbe Million –, und Richmond Hill ist ihr Epizentrum: ein sich ausbreitendes Viertel voller identischer Wohnhäuser und Einkaufszentren knapp zwanzig Kilometer nördlich der Innenstadt. Früher war Richmond Hill ein traditioneller europäisch-kanadischer Vorort gewesen, heute braucht man nicht einmal mehr Englisch zu sprechen. Es gibt keine Dienstleistung oder Ware, die nicht auf Kantonesisch erhältlich ist.
    Ava erinnerte sich an eine Zeit, als es nur das alte Chinatown in der Innenstadt, südlich ihres jetzigen Wohnortes, gegeben hatte. Damals war ihre Mutter eine Art Pionierin, denn sie hatte zu den ersten Chinesen gehört, die sich in Richmond Hill niederließen. Jeden Samstag musste sie Ava und ihre Schwester Marian zum Mandarin- und Abakus-Unterricht nach Toronto fahren. Während die Mädchen lernten, kaufte sie Gemüse, Obst, Saucen, Gewürze aus China und Zehn-Kilo-Säcke mit duftendem Thai-Reis, Produkte, die zu ihren Grundnahrungsmitteln zählten.
    Das änderte sich, als Hongkong sich auf das Ende der britischen Kolonialherrschaft im Jahr 1997 vorbereitete. Die verunsichernde Aussicht auf ein Leben unter der Herrschaft des kommunistischen China hatte zwar nicht unbedingt Panik ausgelöst, doch viele hielten es für sinnvoll, sich andere Optionen offenzuhalten, und Kanada machte es den Wohlhabenden leicht, sich dort einen Zweitwohnsitz zuzulegen. Da Torontos Innenstadtbereich den Zustrom der chinesischen Einwanderer nicht aufnehmen konnte, wurde Richmond Hill zum neuen Heimathafen – die Gründe dafür waren nicht schwer zu verstehen.
    Jahrelang war Vancouver – beziehungsweise die nahegelegene Vorstadt Richmond – begehrtester Wohnort für chinesische Immigranten. Richmond evozierte Reichtum und galt somit als glückverheißend. Auch Avas Mutter hatte während der ersten beiden Jahre im neuen Land dort gelebt. Als Toronto Vancouver als wirtschaftlichen Knotenpunkt zu verdrängen begann, siedelten die chinesischstämmigen Kanadier nach Richmond Hill um, in der Annahme, es sei wie Richmond, B.C. – überwiegend chinesisch. Und je mehr kamen, desto größer wurde der Zustrom, wie immer bei den Chinesen, sodass man jetzt das nahegelegene
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