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Die Wand der Zeit

Die Wand der Zeit

Titel: Die Wand der Zeit
Autoren: Alastair Bruce
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merke ich, wie ich keuche.
    Völlig durchgefroren liege ich in der Nacht wach. Ich werfe noch einen Schwung Holz aufs Feuer und lege mich wieder auf das feuchte Gras. Ich ziehe die Jacke enger um mich. Ich schließe die Augen und denke an Tora. Die freundlichen Worte, das Lächeln. Auch an Amhara denke ich, wie sie läuft und lacht und in einer menschenleeren Siedlung um die Ecken fegt. Im Gedanken an die Berührung von Toras warmem Körper schlafe ich ein, ihren Kopf an meiner Schulter, ihren Atem im Genick. Das sehe ich, das fühle ich im Einschlafen.
    Heute schüttet es. Ich ziehe mich nackt aus und laufe hinaus in den Regen. Mit seitlich ausgestreckten Armen die Balance haltend, laufe ich den Hang hinunter, stolpere, purzele ein Stück, stehe auf und laufe weiter. Ich bin wieder zum Kind geworden. Nach ein paar Minuten ist mir nicht mehr kalt. Ich laufe auf die Ebene hinaus, und da wird es schwieriger. Meine Füße sinken ein, ich sehe mich wie in Zeitlupe, dann fliege ich durch die Luft. Ich lande mit dem Gesicht im Matsch und kann mich nicht abfangen, meine Arme sind nutzlos. Ich liege im Matsch, und er gerät mir in den Hals. Ich wälze mich herum, würge und lege mich auf den Rücken. Alle viere von mir gestreckt, ringe ich nach Atem. Und dann merke ich, wie es passiert: ich versinke.
    Und im Versinken spüre ich die Hände. Sie betasten mich, suchen etwas zum Festhalten. Sie ergreifen meine Finger, meine Hände, ziehen sie nach unten und versuchen mich dann an den Haaren zu packen, doch ich schüttle den Kopf. Sie werdenhektischer, rutschen aber von meinen nassen Armen und Beinen ab, und ich wälze mich immer wieder herum.
    Ich bin jetzt voller Schlamm, wenn auch der Regen jedes Mal, wenn ich mich umdrehe, einen Teil davon wegspült. Sicher bin ich ein merkwürdiger Anblick, weiße Oberseite, braune Unterseite. Ein Mensch in Auflösung.
    Ich setze mich aufrecht und sehe mich um. Das Gras erstreckt sich endlos. Ich betrachte die Stelle, wo ich gerade gelegen habe. Der Schlamm bewegt sich, er lebt. Ich weiß, dass er dabei ist, sich zu setzen. Dennoch stehe ich rasch auf und gehe davon.
    Ich gehe zum Torfmoor hinüber. Kurz davor halte ich an und gehe in die Hocke. Nichts rührt sich. Ich sehe nur Gras, Schlamm, Wasser.
    Mir ist flau. Schwarze Punkte tanzen mir vor den Augen. Ich schließe sie, und alles dreht sich. Nahrungsmangel. Die Kälte.
    Als ich die Augen öffne, steht er vor mir: ausgekugelte Schulter, zahnlos herabhängender Kiefer, rote Haarsträhnen, die im Wind wehen.
    Dann ist er wieder weg, und ich sehe nur Schlamm, Wasser und den düstergrauen Himmel.
    Ich rufe. Ich bringe das Gesicht nah an den Boden und brülle aus vollem Hals. Es ist kein Wort. Es ist nur ein Laut, ein tiefes Brüllen aus der Kehle. Der Schrei eines Tiers in seiner Höhle, das von Menschen verhöhnt wird.

15
    Der Mann sitzt in einer Höhle. Er hält den Kopf in den Händen. Nicht aus Verzweiflung, er denkt nur nach. Seine Freunde sitzen um ihn herum, warten, dass er das Wort ergreift. Schließlich sagt er: »Das Ende ist gekommen. Unser Opfer wird alles retten, was wir kennen. Ihr werdet es zwar nicht mehr erleben, aber der Schmerz, den ich euch zufüge, wird unsere Siedlung wie ein Gurt umschließen, wird unsere Kinder vor dem Hungertod bewahren.«
    Auch die um ihn herumsitzenden Männer neigen die Köpfe. »Vergesst mich nicht. Ich muss für immer damit leben. Ihr habt mir den Auftrag erteilt. Ich habe ihn angenommen.« Die Männer nicken. »Wir müssen gehen.«
    Sie verlassen die Höhle im Gänsemarsch und gehen in der Dämmerung zu den Sümpfen. Dort knien sie sich nebeneinander hin und neigen die Köpfe. Der Auserwählte zieht ein Messer. Der Reihe nach legt er jedem die Hand auf die Stirn, küsst ihn auf die Wange und schneidet ihm die Kehle durch. Einige zittern. Keiner gibt einen Laut von sich.
    Er wälzt die Leichen in den Sumpf und durchstößt sie mit Pfählen. So ist es Brauch. Als er mit allen sechs fertig ist, setzt sich der Auserwählte auf einen Stein und weint. Er ist blutbespritzt.
    Er sitzt allein auf einem Stein auf der nassen Ebene und weint. Seine Reaktion überrascht ihn. Er weiß nicht genau,wann er den Glauben verloren hat. Er weiß nur, dass er nicht mehr glaubt.
    Langsam geht er zum Dorf zurück, das etwas klebrige Messer noch in der Hand.
    Die Götter hören offenbar. Das Leben wird leichter für die Menschen. Es sterben nicht mehr so viele. Er sieht seiner Frau beim Kochen zu. Er sieht seiner
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