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Die Wand der Zeit

Die Wand der Zeit

Titel: Die Wand der Zeit
Autoren: Alastair Bruce
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ist. Der Mörder drückt sich die Hand an die Brust.
    Ich bin also nicht der Erste hier.
    Ich hebe die Leiche auf. Ich bin überrascht, wie leicht sie ist. Die gleiche Menge Torf wäre schwerer. Ich wate tiefer ins Moor hinein und lasse den Mann fallen. Langsam versinkt er im Wasser. Zuerst die Arme und Beine, dann der Brustkorb. Schließlich verschwindet auch der Kopf mit dem starrenden Augapfel. Sekundenlang steigen Luftblasen auf. Dann beruhigt sich das Wasser wieder. Irgendetwas berührt mich am Bein – vielleicht die sich setzende Leiche –, und ich springe aus dem Wasser, so schnell ich kann. Vor einer Leiche, die Jahrtausende im Moor gelegen hat, braucht man sich wirklich nicht zu fürchten, sage ich mir. Aber die Stille hier ist Grund genug.
    Ich raffe den gestochenen Torf und meinen Spaten zusammen. Es ist zwar nicht so viel, wie ich wollte, aber jetzt ist mir nicht nach Weiterarbeiten zumute. Ich trete den Rückweg zur Höhle an. Irgendwann drehe ich mich noch einmal nach dem Moor um. Es liegt still da. Eine Möwe ist an der Stelle gelandet, wo ich gearbeitet habe, und pickt am Boden herum.
    Ich blicke unterwegs noch öfter zurück. Ich weiß selbst nicht, was ich zu sehen erwarte.
    Oben an der Höhle drehe ich mich noch einmal um. Jetzt ist das Moor weit weg. Ich beschirme die Augen vor dem Regen. Es dunkelt bereits. Ich kann den Tümpel nicht ausmachen, aber ich weiß, wo er ist.
    In der Höhle schüre ich das Feuer und setze mich zitternd davor. Ab und zu huste ich wegen des Rauchs. Schon halb im Schlaf lege ich mich aufs Bett. Bilder von der Leiche und der Tötung dringen auf mich ein. Jetzt sehe ich eine ganze Gruppe von Männern, zehn Männer, die das Opfer mit einem Strick um den Hals zum Torfmoor führen. Auf der Insel ist ein Dorf. Sie führen ihn zum Moor, zwingen ihn in die Knie, sprechenhehre Worte, singen, es kommt zum Kampf. Mit dem gleichen Ausgang.
    Er wird ins Moor geführt, oder vielmehr, er geht von selbst. Hoch erhobenen Hauptes, im Prachtgewand, stolz auf sein Schicksal. Seine Untertanen folgen ihm bereitwillig, voll Ehrfurcht über den Mut des Mannes, des Gottmenschen. Nach ihrem Verständnis wird er nicht ermordet, sondern geopfert, um wiederaufzuerstehen, sie von fern zu schützen, einer der Ahnengeister zu werden, die allabendlich aus den Sümpfen kommen und eine schützende Wolke über der Stadt bilden. Manche sagen, sie hören sie miteinander flüstern. Im letzten Augenblick dann Panik, als er unter Wasser gedrückt wird, das Messer an der Kehle spürt. Aus mit der Tapferkeit. Die Menschen schweigen, fragen sich, was das bedeutet. Das gab es noch nie, dass ein Auserwählter sich dem Sterben widersetzt hat, sich geweigert hat, seine göttliche Pflicht zu erfüllen.
    Ein Mörder. Ein Menschenfresser. Aus seinem Versteck im Wald gezerrt. Geschlagen. Bespuckt. Das Gesicht eine Fratze der Wut und der Angst. Seine Verbrechen unsäglich, selbst für jene Zeit. Ein letzter Racheakt, bevor er untergeht. Wurde er gepfählt, damit er nicht mehr hochkam? Wie sich doch die Schicksale der Mörder und der Götter ähneln.
    Sein Gesicht erscheint immer wieder vor mir. Es grinst, sei es aus Angst oder aus Belustigung. Das eine Auge ist zu, das andere offen.
    Jetzt liegt er im Wasser der Insel, atmet Schlick, und der Schlamm und die Zeit verschließen seine Wunden.
    Ich bin nicht allein. Er ist der wahre Herr der Insel. Ich bin nur einer in einer Reihe. Es gab andere. Es wird weitere geben. Es hört nicht mit mir auf.
    Am Morgen liege ich hellwach auf meinem Riedbett, ohne mich zu rühren. Ich denke an die Siedlung. Ich denke an Elba, an Amhara, meine Tochter. Ich denke an die Verheißung eines neuen Lebens. Ist es so schlimm, sich öffentlich von seiner Vergangenheit loszusagen, als ein anderer zu leben? Wiedergeboren zu werden als ein anderer, fremd, leer. Das könnte durchaus Vorteile haben.
    Ich bemerke einen Schatten unter der Tür und drehe rasch den Kopf. Er taucht nicht noch mal auf, und es ist vollkommen still draußen. Eine Möwe, denke ich, oder eine etwas dunklere Wolke. Aber ich nehme es als Zeichen. Fröstelnd stehe ich auf.
    Ich gehe ohne ein bestimmtes Ziel den Berg hinunter. Nur zum Torfmoor, zu dem Mann im Sumpf will ich jetzt nicht.
    Ein paar Stunden später stehe ich oben am Steilufer und schaue auf die rote See hinab. Es ist Ebbe, und der Strand dehnt sich weithin. Die Kliffs sind in den Wochen meiner Abwesenheit stark abgebröckelt. Ich habe mehr von meinem Inselreich
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