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Die Wand der Zeit

Die Wand der Zeit

Titel: Die Wand der Zeit
Autoren: Alastair Bruce
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mich an ihn dort im Saal, vor drei Wochen. Der gleiche Ausdruck in einem älteren Gesicht. Der Zorn, die Selbstgerechtigkeit, die halben Antworten. Ich denke zurück an Juras Zurseiteschauen, die verschlossenen Türen, die gesenkten Blicke, die Schatten in den Straßen. Immer wieder Abel, der die Strippen zog.
    Ein Mann mit der Vision einer neuen Welt. Ich habe ihngut ausgebildet. Eine neue Welt, in der es keinen Platz für die alte gab, keinen Platz für Schatten.
    Weshalb musste Tora sterben? Was gab den Ausschlag für das Todesurteil – meine Rückkehr, ihr Brief, ihr Wort an mich durch die verschlossene Tür, ihr Mitgefühl oder einfach meine Gegenwart, meine Weigerung zu verschwinden?
    Ich frage mich, wie es geschehen ist. Hat ein aufgebrachter Mob mit lodernden Fackeln sie geholt? Ihren Namen gebrüllt? Und was haben sie mit ihr gemacht? Mit der Mätresse des Hassobjekts. Haben sie sie geschlagen? Ihr gedroht? Und hat sie geschrien, als sie aufgehängt wurde? Ich glaube nicht. Bestimmt hat sie die Leute nur verächtlich angesehen. Tapfer bis zum Schluss.
    Vielleicht wollte sie mit mir gehen.
    Eine neue Welt, die wie die alte mit einem Mord beginnt. Die Erzsünde.
    Er hatte unrecht. Man kann ein Gespenst töten.
    Ich gehe zu meinem Steinfeld. Ich stelle mich in die Mitte, sodass sie alle um mich sind. Sie stehen wieder auf. Ich bin in einem Totennebel. Hier gehören sie jetzt hin. Hier sind wir zu Hause.
    Ich denke an die Stadt. Meinem Gefühl nach schläft sie jetzt. Ich höre die Grillen, rieche den Rauch, schmecke die Orangen. Ich sehe Amhara durch die Straßen laufen, um die Ecken verschwinden, während Elba hinter ihr herruft. Ich sehe Elba mit dem Rücken zu mir sitzen, über einen Tisch gebeugt. Ihre Freundin ist begraben. Die Vorhänge sind zugezogen, das Haus kenne ich nicht.
    Ich sehe die Toten in ihren Gräbern, die vergilbten Gebeine.
    Was haben sie Amhara über ihre Mutter erzählt?
    Elba sitzt tagaus, tagein am Tisch und weint leise.
    Es sind zu viele Tote.
    Amhara läuft durch die Straßen, ihre Mutter ist unter der Erde, der Geist ihres Vaters wacht über sie. Der Vater, den sie nicht kennt. Obwohl ich glaube, sie hat etwas geahnt – so, wie sie mich ansah, als sie mir die Hand gab.
    Sie läuft durch die Straßen, läuft bis hin zur Stadtmauer, immer wieder. Sie tastet nach Ritzen in der Mauer, ohne sich um die Splitter zu kümmern. Die Straßen, durch die sie läuft, das Flachland hinter der Mauer, die See: eine blutgetränkte kleine Welt. Dreckig. Aber immerhin etwas. Sie macht es zu etwas. Es ist vielleicht mehr, als wir verdient haben. Mehr, als ich verdient habe.
    Ich sehe sie wieder. Diesmal bin ich bei ihr. Bei ihr und ihrer Mutter. Wir befinden uns auf der weiten Ebene jenseits der Tore von Bran. Von einem Schneesturm überrascht, stapfen wir mit gesenkten Köpfen voran. Ich führe Frau und Tochter aus dem schlimmsten Schnee heraus in eine Schlucht. Lege die Arme um sie und wärme ihnen mit meinem Atem die Hände. Ich schütze sie vor der Kälte.
    Ein plötzlicher Windstoß. Ich bin wieder auf der Insel, nass bis auf die Haut.
    Ich gehe in den Wald. Dort ist es so ruhig wie immer. Wie ich es in Erinnerung habe. Die Späne am Boden sind noch gelb und riechen nach Kiefer, als wäre ich gerade erst hier gewesen. Ich blicke hinter mich. Ich weiß noch, wie ich hier zum letzten Mal hinter mich geschaut habe und Andalus auf dem Baumstumpf sitzen sah, wie er da saß und mich beobachtete. Ich streiche mit der Hand über die Rinde. Sie ist klebrig vor Harz.
    Ich sollte nach Axum fahren. Ihn ausfindig machen. Dortmeine Geschichte erzählen. Aber ich weiß, dass das nicht passieren wird. Sie können mir nicht geben, was ich brauche.
    Ich hacke ein paar Stunden Holz und trockne mit dem Feuer dann die Höhle aus. Meine Sachen stelle ich auf die Steinborde. Ich fange einen Fisch und ziehe das Floß auf den Strand hinauf. Ich weiß nicht, was ich noch damit soll. Zum Fischefangen brauche ich es nicht, und ich plane keine Reise. Aber auseinandernehmen will ich es trotzdem noch nicht. Das hat mir etwas zu Endgültiges. Vorerst muss es am Strand bleiben.
    In der Nacht wache ich mehrmals auf. Am Morgen esse ich kalten Fisch, während ich mein Messer schärfe. Der Spaten ist leicht angerostet. So etwas geht hier schnell.
    Ich stoße die Tür auf, und ein kalter Windstoß trifft mich. Die Insel ist kälter als in meiner Erinnerung. Ich ziehe meine Jacke enger um mich und gehe den Hügel hinunter.
    Ich
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