Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Wand der Zeit

Die Wand der Zeit

Titel: Die Wand der Zeit
Autoren: Alastair Bruce
Vom Netzwerk:
eingebüßt, als ich dachte. Offenbar hat sich die Erosion beschleunigt, und das Verschwinden der Insel rückt näher. Ich muss feststellen, dass mich der Gedanke nicht sonderlich beunruhigt.
    Auf dem Sand, dem schwarzen Sand, sehe ich reglos den großen weißen Felsblock liegen. Ich setze mich ins Gras. Oder vielmehr, ich knie mich hin. Knie erst und lasse mich dann zu Boden gleiten. Ich beobachte das Ding. Beobachte es, ohne nachzudenken. Mir ist alles zu viel. Ich sehe das weiße Ungetüm auf dem schwarzen Sand und sitze im Gras und beobachte es. Dann lege ich mich auf den Rücken. Als ich mich wieder hinsetze, ist es immer noch da. Ich schließe die Augen.

14
    Ein Schatten schwimmt durch den Schlamm unter mir, gestaltlos. Er bekommt einen Kopf, ein helles Auge, Arme. Mit aufgesperrtem Rachen greift er nach mir. Ich springe auf und bürste mich ab.
    Der weiße Felsblock ist noch da. Ich merke, ich muss hin.
    Der Felsen ist nass und riecht nach dem Meer. Unten klebt Seetang an ihm. Um ihn herum liegen halb verdeckt kleinere Steine im Sand. Vielleicht Teile des Ganzen. Wenn man die Augen ein wenig zusammenkneift, sodass es dunkler wird, sehen sie wie Finger aus. Der Felsen ist ein Körper im Sand. Ich muss an den Mythos von dem steinumschlossenen Mann denken. In dem Felsen lassen sich bei genauem Hinsehen, wenn man nur will, die Konturen eines Gesichts erkennen, ein Gesicht, das nicht sprechen kann, weil es für alle Zeit erstarrt ist.
    Andalus ist es allerdings nicht. Sein brüchiges Bild ist aus meinem Kopf verschwunden.
    Ich setze mich in den Sand, lehne mich an den Felsblock. Greife nach ein paar Steinchen, lasse sie durch meine Finger rieseln. Ich bin von schwarzen Gesteinsbrocken umgeben, die von den einstürzenden Steilwänden ausgespien wurden. Und dazwischen dieser weiße, fremd, nicht hergehörig. Eine Halluzination.
    Ich denke an die Toten zurück. Neunhundertundsiebzehn. Fortgespült wie die Kliffs im Regen.
    Durch den Regen, das nasse Gras, das graue Licht kehre ich zur Höhle zurück. Über mir fliegt eine Möwe. Immer wieder drehe ich mich um und blicke nicht zum Horizont, sondern auf den Boden direkt hinter mir, den Schlamm. Meine Fußabdrücke hinterlassen eine Spur im Riedgras. Sie füllen sich mit Wasser. Wenn ich die Füße aus dem Schlamm ziehe, entsteht ein schmatzendes Geräusch, und schon schließt er sich wieder über der Spur. Ich bleibe einen Augenblick im Schlamm stehen. Meine Füße sinken ein, Schlamm sickert mir durch die Zehen. Ich stelle mir vor, dass sie auf etwas Kaltem stehen: einem Stein, einer Urne, einem Gesicht. Ich stelle mir vor, dass eine Hand sich von unten heraufstreckt, um mich zu berühren. Ich ziehe meine Füße heraus und gehe weiter. Nach ein paar Schritten sind die Spuren völlig verschwunden. Ich bleibe erneut stehen. Sinke wieder ein. Diesmal laufe ich weg. Ich laufe durch den Schlamm, bis ich zum Gras komme und nicht mehr einsinke. Vornübergebeugt schnappe ich nach Luft. So sollte ich nicht zittern.
    In der Höhle lege ich Holz aufs Feuer und setze mich davor, ohne mich am Rauch zu stören. Ich bleibe sitzen, bis Dampf von meinen Kleidern aufsteigt. Aber trocken wird hier nichts. Nicht ganz. Bin ich vorne trocken, bin ich hinten nass. Drehe ich mich um, geht die feuchte Luft wieder ans Werk. Das Wasser lässt sich nicht aussperren. Ich rolle mich auf dem Riedbett zusammen und schließe die Augen.
    Mitten in der Nacht erwache ich von lautem Pochen an der Tür, einem nicht nachlassenden Klopfen. Schlaftrunken stehe ich auf, um nachzusehen. Ich habe Angst und weiß nicht, was mich erwartet, ob Freund oder Feind, aber ich sehe trotzdem nach. Ich hätte keine Angst zu haben brauchen. Der Wind hat aufgefrischt, und die Tür klappert gegen den Stein. Draußen istniemand. Dennoch grüße ich in die Dunkelheit. Meine Stimme hört sich komisch an.
    Der Wind ist neu. So stark bläst er hier selten. In all den Jahren kam das erst ein- oder zweimal vor.
    Am nächsten Tag stürmt es weiter. Ich liege noch auf der Matratze und füttere das Feuer mit Holz, Torf, allem, was ich habe. Der Rauch macht mich husten. Den zweiten Tag hintereinander esse ich nichts.
    Stundenlang stehe ich vor der Wand der Zeit. Ich habe einen Stein in der Hand. Ich füge der Wand keine Kerbe hinzu. Ich lasse den Stein fallen.
    Am Abend passiert es wieder. Ich höre die Tür im Wind klappern. Es hört sich an, als ob jemand klopft. Ich gehe hin, öffne die Tür und sage Hallo. Daraufhin scheint der
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher