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Die Wahrheit stirbt zuletzt

Die Wahrheit stirbt zuletzt

Titel: Die Wahrheit stirbt zuletzt
Autoren: Leif Davidsen
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ermahnt.
    Es ist warm, aber sie schwitzt nicht unter dem langen weißen Kleid mit der blauen, gestärkten Schürze. Stille und eine kühle Effektivität umgeben sie. Vormittags bekommen die Patienten und Kurgäste viele verschiedene medizinische Behandlungen und Anwendungen, die der Vater entwickelt hat. Anwendungen, die eine Mischung sind aus Elektrotherapie, Solebädern, Heilkräutern und geheimen Heilverfahren, die die Qualen der Gicht beseitigen können, die ein zu gutes Leben verursacht hat. Ein Aufenthalt im Sanatorium des Vaters ist bei den Wohlhabenden im ganzen Land begehrt, aber er nimmt auch gern die weniger Betuchten auf, wenn ihre Krankheiten ein ausreichendes Maß an Komplexität aufweisen – einer der Lieblingsausdrücke des Chefarztes, wie Magnus sich erinnert.
    Er hat einige Patienten auf den Liegestühlen im Garten beim Sonnenbaden beobachtet, und er kann sie förmlich vor sich sehen, wie sie in den diversen Behandlungsräumen des Sanatoriums warme Bäder nehmen, in nach Schwefel riechenden Schlamm eingepackt sind oder mit ionisiertem Wasser behandelt werden. Aber die einzigen Geräusche, die er hört, sind das Summen der Insekten im Garten und die leichten Schritte eines Paars schneller Holzschuhe auf dem Linoleumboden eines langen Flurs.
    »Fräulein Jørgensen, wissen Sie, wo ich meine Schwester finde?«
    Sie sieht ihn erneut einen Augenblick lang an, bevor sie antwortet: »Wie ich bereits sagte: Sie ist mit einer Gruppe Patienten zum neuen Badebecken im Gehölz Tinnet Krat gefahren. Der Herr Chefarzt erforscht das Badewasser, das aus der Quelle des Gudenå stammt und frei von jeglicher Art von Verunreinigung ist. Der Herr Chefarzt untersucht den möglichen Einfluss dieses Badewassers auf die Behandlung von Psoriasis.«
    Er erkennt die Worte des Chefarztes in diesem Vortragwieder, sagt aber bloß: »Ich kann Ihnen gerade nicht folgen …«
    Sie sieht ihn mit dem Blick an, vor dem er sich als Kind so gefürchtet hat. Ein Blick voller Verachtung für die geringe Intelligenz anderer Menschen. Nur die des Chefarztes kann sich mit der ihren messen.
    »Nein, das können Sie wohl nicht. Es liegt, wie gesagt, an der Quelle des Gudenå. Gut fünfzig Kilometer von hier, in Richtung Süden. Das Fräulein ist gleich nach dem Frühstück mit Chauffeur Klausen im Patientenbus aufgebrochen. Es ist ziemlich weit von hier, aber die Wissenschaft verlangt eben Opfer.«
    »An der Quelle des Gudenå?«
    »Das sagte ich bereits. Und wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen würden. Es ist Zeit, einige der Anwendungen zu beenden. Ich werde dem Herrn Chefarzt Ihre Grüße ausrichten.«
    Er setzt seinen Hut auf, nickt seinem Schatten zu, geht zur Haltestelle, an der Kurts Kraftdroschke abfährt, und bittet darum, zu jener Badestelle gefahren zu werden, die sich an der Quelle des Gudenå befindet. Droschken-Kurt selbst ist unterwegs, aber seine Frau Signe nickt erstaunt, als sie ihn sieht und möglicherweise wiedererkennt und einen anderen Chauffeur herbeibeordert, der dem Herrn mitteilt, dass es sich um eine weite Fahrt handle, die daher nicht ganz billig sei. Der Chauffeur ist untersetzt und hat unter seiner abgewetzten Schiebermütze große Flecken im Gesicht. Meyer nickt nur und ist nicht der Ansicht, dass er ihn über die unendlichen Entfernungen in der Pampa und über das Konto in New York aufklären muss, auf dem sich sein Gewinn aus Argentinien und sein ansehnlicher New Yorker Lohn befinden. Das Auto ist ein gepflegter Studebaker, groß und geräumig, sodass Magnus seine langen Beine auf der Rückbank ausstrecken kann.
    Die dänische Landschaft erstreckt sich sanft und hügeligvor ihm, die Felder sind abgeerntet und mehrere von ihnen bereits umgepflügt. Trotzdem sieht alles grün und üppig aus. Überall sind Pferdegespanne vor Pflügen oder Eggen im Einsatz. Die Bauern ziehen ihre Mützen zum Gruß und starren dem feinen Auto hinterher, das mit einem eleganten Herrn auf dem Rücksitz an ihnen vorbeifährt. Die Störche sind schon weitergezogen und die Stare finden sich gerade zu einem Schwarm zusammen, und wieder kommt Magnus in den Sinn, wie gering die Entfernungen hier sind und wie malerisch die Landschaft ist.
    Er muss an die großen, offenen Weiten Argentiniens denken, an die feuchten Berge oben im Norden und an das hitzige, stinkende Leben im Slum von Buenos Aires, und so betrachtet er mit leichter Herablassung sein Vaterland mit den gewundenen Straßen, kleinen Häusern und der Ordnung, die selbst bei den
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