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Die Wahrheit stirbt zuletzt

Die Wahrheit stirbt zuletzt

Titel: Die Wahrheit stirbt zuletzt
Autoren: Leif Davidsen
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ist so stark, dass damit auch noch einige hübsche kleine Springbrunnen betrieben werden können, die zugleich als Trinkfontänen dienen. Zwischenden Fontänen steht eine kleine Sonnenuhr. Dort entdeckt er zwischen all den Badenden und Sonnenanbetern seine ein Jahr ältere Schwester Marie.
    Sie ist nicht zu übersehen, hübsch, groß und schlank und von einer Lebhaftigkeit, die in Wahrheit nur Fassade ist, denn ihr Gemüt verdunkelt sich leicht. Es zeuge von einem Hang zum Depressiven, wie der Vater zu sagen pflegt. Ihre latente Schwermut entwickelte sich nach dem Tod der Mutter, die 1929 einer schweren Grippeerkrankung erlag, der selbst der Chefarzt machtlos gegenüberstand. Nach dem Tod der Gemahlin wurde seine kühle Distanz endgültig zur Kälte. Er verdrängte seinen Schmerz mit der mechanischen Effektivität, die die übergewichtigen Damen so anzieht, weil sie spüren, dass sie auf höchsten wissenschaftlichen Erkenntnissen basiert.
    Maries Haare sind dunkelblond, und sie hat sie von ihrer hohen, geraden Stirn aus nach hinten gekämmt, sodass sie, der Mode entsprechend, in weichen Locken auf ihren weißen Kragen fallen. Er sieht die schlichte Haarspange, mit der sie ihre Haare festgesteckt hat. Aus Schminke hat sie sich noch nie viel gemacht. Sie trägt ihre Uniform. Den langen weißen Rock und die Hemdbluse, die trotz des warmen Spätsommertages bis oben zugeknöpft ist und am Kragen von der Anstecknadel des Dänischen Krankenschwesternbundes zusammengehalten wird. Sie hat ihn noch nicht bemerkt, er kann sie also ungestört betrachten.
    Sie hat sich nicht verändert in den fünf Jahren, die er weg gewesen ist. Diese fünf Jahre scheinen, zumindest aus einiger Entfernung betrachtet, spurlos an ihr vorübergegangen zu sein. Es geht nach wie vor eine erotische Anziehungskraft von ihr aus, derer sie sich nicht bewusst ist, denkt er, schiebt diesen Gedanken jedoch schnell beiseite. So etwas denkt man nicht über seine Schwester, aber er begreift nicht, warum sie noch immer nicht verheiratetist angesichts dieser leidenschaftlichen Flamme, die doch ganz offensichtlich nur darauf wartet, entfacht zu werden. Vielleicht ist sie ja auch gar nicht mehr allein. Was weiß er schon? Sie hat nichts von einem Geliebten oder Mann geschrieben in dem Brief, den er von ihr bekommen hat und der der Grund dafür ist, dass er jetzt hier in der Sonne steht und sie betrachtet.
    Sie wird siebenundzwanzig Jahre alt, aber sie hat ganz und gar nichts Damenhaftes an sich, fällt ihm auf. Sie macht ein paar schnelle, leichte Schritte, um einen übergewichtigen Herrn besser im Blick zu behalten, der Schwierigkeiten hat, aus dem mittleren Becken auszusteigen.
    Sie hat wohl keinen Grund gesehen, etwas über sich zu schreiben, schließlich ging es doch um Mads. Ihr Brief ist geschäftsmäßig, fast kühl und eine Bitte um Hilfe. Er kennt sie. »Deine Dich immer liebende Schwester«, so hat sie ihn unterzeichnet. Ist sie das? Ist er ihr geliebter kleiner Bruder? Und was ist mit dem Nesthäkchen Mads, das sie beide bedingungslos liebten, als sie Kinder waren?
    Magnus zündet sich eine Zigarette an, und seine Uhr reflektiert das Sonnenlicht. Marie dreht sich um, lächelt ihn an und kommt mit ihren federnden Tänzerinnenschritten auf ihn zu. Dann bleibt sie stehen und hält sich die Hand wie einen Schirm vor die Stirn, als wolle sie sicher gehen, dass es auch wirklich Magnus ist, der auf der steilen Treppe steht und zu ihr hinunterschaut. Er nimmt seinen Hut ab und winkt mit ihm, und sie lächelt noch immer, als er schnell zu ihr hinuntergeht.

2
    M agnus Meyer spürt den Körper seiner Schwester, und dieses Gefühl ist ungewohnt für ihn, aber auch für sie. Sie kommen aus einer Familie, in der Körperkontakt nicht üblich ist, schon gar nicht in der Öffentlichkeit. Sie begrüßen sich mit einem kurzen Kuss, und im nächsten Augenblick stehen sie sich schon wieder wie zwei Fremde im Sonnenschein gegenüber. Magnus kommt es vor, als befinde er sich unter einer Käseglocke, aus der alle Geräusche ausgeschlossen sind. Die Badenden scheinen in einem verschleierten Licht zu verharren, als stünden sie Modell für ein Sommergemälde. Doch dieses unwirkliche Gefühl hält nur einen Moment an.
    Marie löst die beklommene Stimmung auf, als sie sagt: »Ich habe dich rauchen sehen. Gibst du mir eine ab?«
    »Ich wusste gar nicht, dass du rauchst.«
    »Es gibt, glaube ich, eine Menge Dinge, die du nicht von mir weißt. Fünf Jahre sind eine lange
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