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Die Wahrheit stirbt zuletzt

Die Wahrheit stirbt zuletzt

Titel: Die Wahrheit stirbt zuletzt
Autoren: Leif Davidsen
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ein Ziehen in der Magengegend, als er die schöne Schrift sieht, die Mads fast vom ersten Schultag an gehabt hat, und liest:
    4. März 1937
    Meine geliebte Schwester Marie,
    wenn Du diese Zeilen liest, werde ich schon fort sein. Bitte sei nicht allzu traurig, sondern versuche, mich zu verstehen. Es ist nicht so wie bei Magnus, dass ich von zu Hause fliehe oder vor mir selbst, so, wie er es getan hat. Auch wenn er mein Bruder ist, finde ich, er hat sich feige verhalten, einfach so abzuhauen. Aber ich habe ihm längstverziehen. Es ist fünf Jahre her, und vielleicht stimmt es, dass die Zeit alle Wunden heilt. Heute weiß ich, dass er nicht so sehr vor Vater geflohen ist als vielmehr vor sich selbst …
    Aber ich fliehe nicht vor irgendetwas. Ich breche erhobenen Hauptes auf zu etwas, das größer ist als ich selbst. Ich kann nicht länger schweigend zusehen, wie die Ungerechtigkeit die Gerechtigkeit niederwalzt und wie die Unschuldigen den Kugeln der Tyrannen zum Opfer fallen. Gerade wir, die wir ein gutes Leben führen, haben die Pflicht, an die Menschen zu denken, mit denen das Schicksal es nicht so gut meint.
    In Spanien findet ein Kampf statt, der für uns alle von Bedeutung ist. Davon bin ich überzeugt. Du weißt, dass ich den Kriegsverlauf vom ersten Tag an aufmerksam und mit wachsendem Entsetzen verfolgt habe und dass mein Herz für die legal gewählte Republik schlägt. Ich kann nicht länger im beschaulichen Dänemark bleiben und tatenlos zusehen. Es reicht nicht aus, Petitionen an die Presse zu schicken. Dänemark und auch andere Länder lassen das freie, kämpfende Spanien mit ihrer heuchlerischen Nicht-Interventionspolitik aufs Schändlichste im Stich, während Deutschland und Italien die faschistischen Aufständischen mit Waffen versorgen. Unser eigenes Parlament hat neulich das Seine dazu beigetragen, indem es dem verachtenswürdigen Verbot, nach Spanien zu reisen, zugestimmt hat. Nur Stalins Sowjetunion zeigt Rückgrat und handelt moralisch integer, indem es Spanien unterstützt.
    Trotz der Heuchelei unserer Regierungen strömen junge Männer aus Europa und Amerika zu den Internationalen Brigaden nach Spanien. Ich kann nicht anders, als den Griffel gegen das Gewehr einzutauschen. Ich empfinde es als meine Pflicht, zusammen mit gleichgesinnten Kameraden vor den Toren Madrids »No pasarán« anzustimmen. Ich weiß, Du wirst denken, das sei gegen meine Natur. Ichweiß, dass Du und Magnus immer der Meinung wart, dass der verwöhnte Nachzügler nichts als ein süßer kleiner Junge ist, der weinen muss, sobald er einen Schmetterling gegen die Fensterscheibe fliegen sieht.
    Vielleicht bin ich das auch, aber ich bitte Dich darum, mich zu verstehen, wenn ich Dir sage, dass ich meine Ansichten auf die denkbar härteste Weise in die Tat umsetze, auch wenn mir meine Arbeit als Dichter nach wie vor viel bedeutet. Vielleicht bin ich nicht mutig, aber ich muss und werde meine Angst überwinden, und ich bete darum, dass ich in der entscheidenden Stunde des Kampfes nicht aufgeben werde.
    Meine liebe Schwester, Du musst Dir keine Sorgen machen. Ich werde Dir schreiben. Ich möchte Dich bitten, Vater von meinem Entschluss zu unterrichten. Ich weiß, dass er mich nicht verstehen wird. Er wird mich wahrscheinlich verstoßen und meinen Namen nie wieder in den Mund nehmen, so, wie er auch Magnus nie wieder erwähnt hat. Damit kann ich leben, solange Du mich verstehst und mir auch weiterhin zugetan bist, meine liebe Marie. Du musst für uns beide in Dänemark stark sein.
    Wenn Du diese Zeilen liest, befinde ich mich bereits auf einem Schiff, das von Esbjerg aus nach Frankreich fährt. Ich bin mit zwei guten Freunden unterwegs. Meine Gedanken fliegen durch die Luft, und ich bin sicher, dass sie Dich in der Heimat erreichen und dass Du sie wie die zarte Berührung eines Engelsflügels spüren wirst. Sei stark und mutig, Marie, wie ich es von Dir kenne, dann werde ich versuchen, es ebenfalls zu sein.
    Dein Dich immer liebender Bruder
    Mads
    Magnus reicht ihr den Brief. Sie faltet ihn sorgfältig zusammen und steckt ihn in den Umschlag zurück. Sie schauen einander nicht an.
    »Er hat nur gesagt, er wolle für ein paar Tage zu einer Freundin nach Aalborg fahren.«
    »Er ist alt genug.«
    »Er ist noch nicht mündig, und es ist verboten, was er da macht.«
    »Findet der Herr Chefarzt.«
    »Was ja auch stimmt, aber das ist noch das geringste Problem.«
    »Er hat mir nie geschrieben«, sagt Magnus und hält ihr das zerkratzte
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