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Die Wahrheit stirbt zuletzt

Die Wahrheit stirbt zuletzt

Titel: Die Wahrheit stirbt zuletzt
Autoren: Leif Davidsen
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kräftigen Haar, das mit einem Scheitel zur Seite gekämmt ist. Sie haben dieselben wohlgeformten, aber großen Ohren und ein Lächeln, das den beinahe brutalen Ausdruck ihrer Gesichter abmildert und sie geradezu einnehmend und heiter wirken lässt. Marie nannte ihn »kleines Doppelgesicht«, wenn sie als KinderIndianer spielten, erinnert Magnus sich. Und vor allem – das wird Magnus an dieser Tafel bewusst – haben sowohl er als auch der Vater diese klaren blauen Augen, von denen Dolores sagte, sie würden zu einem eiskalten Bergsee, wenn er wütend sei. Ich bin das Ebenbild meines Vaters, denkt Magnus. Wenn ich ihn bestrafe, bestrafe ich mich selbst.
    Die Vorspeise rettet ihn. Es gibt Hühnersuppe, gefolgt von Huhn mit Spargel und einer Zitronencreme zum Dessert. Für Magnus hört sich das sehr exotisch an. Und es wird sicher auch eigenartig schal und ungewürzt schmecken im Vergleich zu den großen Rindersteaks und den scharfen roten Chilibohnen, an die er gewöhnt ist, oder zu den guten italienischen Gerichten in seinem New Yorker Stadtviertel. Wie wenig wissen die Dänen doch über das Essen anderer Länder. Weil Doktor Krause zu Gast ist, hat der Vater einen Wein heraufgeholt. Es ist ein Wein aus Süddeutschland, süß und schwer. Magnus weiß, dass Frau Madsen nach wie vor das Essen für die Familie zubereitet. Er hat bei der alten Köchin vorbeigeschaut, die sich sehr, sehr gefreut hat, ihn wiederzusehen. Als Kind hat er viele Stunden bei ihr in der großen Küche zugebracht. Sie ist seit über dreißig Jahren bei der Familie beschäftigt.
    Das Hausmädchen ist neu. Er glaubt sich zu erinnern, dass sie Karla heißt und nicht viel älter als siebzehn oder achtzehn ist, klein und rundlich mit braunen, schönen Augen. Sie kommt mit der Suppenterrine herein, Marie nimmt sie ihr ab und verteilt die Suppe. Magnus kann nicht anders, als immer wieder zu Karla hinüberzusehen. Sie sieht zum Anbeißen aus, denkt er und stellt sich ihren weichen Körper unter der schwarzen Uniform mit der weißen, gestärkten Schürze vor. Er hat die unverhohlenen Blicke, die sie ihm zugeworfen hat, sehr wohl wahrgenommen. Er wirkt wie ein fremder, exotischer Vogel indieser Gesellschaft. Er sieht ihr an, dass sie von ihm und seinen Erlebnissen in der großen weiten Welt fasziniert ist. Sie erinnert ihn an seine letzte italienische Freundin in New York. Seine Träumereien werden unterbrochen, als Doktor Krause ihm offensichtlich bereits zum zweiten Mal die Frage stellt:
    »Und Sie, Herr Meyer? Wie ich höre, haben Sie sich viele Jahre auf der anderen Seite des Atlantiks aufgehalten. In Argentinien, wenn ich mich recht entsinne?«
    »Das ist korrekt. Und in den USA.«
    »Aha. Amerika. Das Land der Depression und der Neger. Darf man fragen, was Sie im fernen Ausland gemacht haben?« Krause sieht Meyer interessiert an. Er hat kleine, eng stehende Augen in einem runden, beinahe kindlichen Gesicht. Seine Stirn ist niedrig und kahl, er hat einen Haarkranz wie ein Mönch und sieht aus wie ein freundlicher Troll. Aus seinen Nasenlöchern und den Ohren wachsen kleine Haare, und wenn er kaut oder schluckt, hüpft sein Adamsapfel auf und ab. Die Frage wirkt eigentlich unschuldig, aber Meyer vermutet, dass der gute Deutsche im Auftrag des Chefarztes fragt, der sich niemals dazu herablassen würde, ihn direkt danach zu fragen, was er in den letzten Jahren gemacht hat.
    Magnus überlegt einen Moment, entschließt sich dann aber, zumindest teilweise ehrlich zu antworten, auch Marie zuliebe. Später kann er ihr dann immer noch die ganze Geschichte erzählen. Er legt seinen Löffel beiseite. Die Suppe ist gut und würzig, aber ohne jenen Pfiff, den er zu schätzen gelernt hat. Er antwortet – und die deutsche Sprache fällt ihm erstaunlich leicht: »Ich habe in den großen Schlachtereien in Chicago angefangen, dann habe ich eine Zeit lang bei der Eisenbahn in Oregon und auf einer Ranch in Texas gearbeitet. Ich habe einen Viehzüchter kennengelernt, der mich nach Argentinien mitgenommen hat, wo sein Bruder eine Ranch hat. Dort habe ichfast drei Jahre lang gearbeitet, zuletzt als Vorarbeiter. Danach habe ich in New York gelebt.«
    Krause isst schlürfend seine Suppe. »Sehr interessant, junger Mann. Und wie haben Sie die Depression erlebt?«
    »Sie hat viele Menschen schwer getroffen, aber für diejenigen, die sich aufs Geldverdienen verstehen, hat sie durchaus auch ihr Gutes.«
    »Und wohl auch für Sie. Das scheint man Ihnen ansehen zu
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