Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Wahrheit stirbt zuletzt

Die Wahrheit stirbt zuletzt

Titel: Die Wahrheit stirbt zuletzt
Autoren: Leif Davidsen
Vom Netzwerk:
mit ihrem Blick ihr Urteil verkündet. Marie sitzt als Tischdame von Doktor Helmut Krause an der einen Längsseite des Tisches, während Magnus allein auf der anderen Seite platziert ist.
    Er muss sich eingestehen, dass er nervös war, als er im Taxi vom Hotel zum Sanatorium und zur großen weißen Villa seiner Kindheit fuhr. Er hat den Chefarzt fünf Jahre lang nicht gesehen. Das ist der eine Grund, aber da ist noch ein anderer. Er kann nicht vergessen, dass der Vater mit blutender Nase und geschwollenem Auge auf dem Boden lag, als er ihn zuletzt sah.
    Marie ist eine kluge Frau. Sie hat mit dem Vater zusammen auf ihn gewartet. Als Magnus aus dem Wagen stieg, spürte er, dass sie in der Abenddämmerung gemeinsam direkt hinter der Eingangstür standen und auf ihn warteten. Kaum hatte er geklingelt, öffneten sie die Tür. Normalerweise machte das Hausmädchen auf. Der Vater sah ihn lange an, als er mit seinem Koffer eintrat, den er in der Halle auf den Boden stellte. Sie standen da, als wären sie Figuren in einem erstarrten Tableau, bis Marie drei Schritteauf ihn zumachte, ihn aufs Kinn küsste und sagte: »Willkommen daheim, Magnus.«
    Der Vater streckte ihm die Hand entgegen, Magnus ergriff sie, und so standen sie für einen Moment da, der ihnen zugleich sehr lang und sehr kurz vorkam. »Herzlich willkommen in meinem Haus, Magnus«, sagte der Chefarzt, als das Schweigen lange genug wie eine schwere Decke über der Halle gelegen hatte, und als er die Hand seines Sohnes losließ, ergänzte er: »Frau Madsen hat dir dein altes Zimmer hergerichtet.«
    Das war alles. Das Unausgesprochene würde für immer unausgesprochen bleiben.
    Das weiße Damasttischtuch bedeckt den dunklen Mahagonitisch, die düstere Farbe der geschwungenen Tischbeine passt zu der Stimmung, die Marie leicht angestrengt zu heben versucht, indem sie betont heiter von der kindlichen Freude der Patienten beim Besuch des Badesees am Tinnet Krat erzählt. Ihr Deutsch ist tadellos. Magnus merkt, dass seines etwas eingerostet, aber dennoch ganz brauchbar ist. Der Chefarzt hatte Deutschland stets als die wichtigste und zivilisierteste Nation Europas angesehen und dafür gesorgt, dass seine Kinder von klein auf die Sprache Goethes und Schillers erlernten. Meyer erinnert sich an verschiedene Deutschlehrer, aber vor allem an Angela, die für zwei Jahre zu ihnen ins Haus gezogen war, als er zwölf Jahre alt war. Sie war so schön und anziehend gewesen, und er war sehr verliebt in sie.
    Marie sieht frisch und hübsch aus in ihrer Abendkleidung, die sowohl von ihrem guten Geschmack als auch von ihrem Modebewusstsein zeugt, denkt Magnus und betrachtet seine große Schwester. Er weiß, dass sie hier keine großen Einkaufsmöglichkeiten hat und auch nicht oft nach Kopenhagen kommt, aber sie hat schon immer das Talent gehabt, im Katalog von Daells Warenhaus genau das Passende zu finden. Sie hat sich für ein schlichtes,langes Kleid aus feinster grauer Seide entschieden und ihre Haare mit einer hübschen Spange hochgesteckt, die er ihr, wie er sich plötzlich erinnert, zu ihrem achtzehnten Geburtstag geschenkt hat. Sie hat Make-up aufgelegt und lässt den sonst so tristen Tisch erstrahlen.
    Magnus hat sich für den dunkelgrauen Anzug mit dem italienischen Schnitt entschieden, der so gut zu seinem blauen Schlips mit dem roten Muster passt. Er blickt zum Vater hinüber, der mit seinem deutschen Gast über einige der Patienten des heutigen Tages spricht. Der Vater trägt den nachtblauen Anzug, abends wie immer zusammen mit dem feinen dunklen Schlips und dem weißen Hemd. Er sitzt sehr gerade auf seinem Stuhl, und sein Anblick jagt Magnus auf einmal einen Schrecken ein, aber nicht, weil er noch immer Angst vor ihm hat.
    Der Vater hat eine Narbe direkt neben dem linken Auge, wo er ihn vor fünf Jahren mit dem Ring an seiner rechten Hand traf, ehe er fortging und sich schwor, nie wieder zurückzukehren. Die sichtbare Narbe wird nie mehr verschwinden. Aber wie sieht es mit den seelischen Narben aus? Wie so vieles andere werden sie in das Schweigen eingehüllt werden, das schon immer das bevorzugte Schutzschild und die wirkungsvollste Angriffswaffe des Chefarztes gewesen ist. Magnus wird von einem leichten Schaudern erfasst, weil er sich selbst so deutlich im Chefarzt wiedererkennt.
    Für einen Moment meint er, sich selbst in fünfunddreißig Jahren wie in einem Spiegel zu sehen. Sie haben dasselbe charakteristische lange Gesicht mit der hohen, ebenmäßigen Stirn und dem
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher