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Die Wahrheit des Blutes

Die Wahrheit des Blutes

Titel: Die Wahrheit des Blutes
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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Klinge zwischen Daumen und Zeigefinger der linken Hand, während sie sie in die Scheide zurückgleiten ließ. Naoko erinnerte sich, dass Ayumis Waffen aus dem 17. Jahrhundert stammten, aus der Genroku-Zeit in der Edo-Periode. Ein Geschenk ihres Vaters. Ihr eigenes Schwert, ein Erbstück aus der Familie ihres Vaters, war längst nicht so alt und wertvoll.
    Ayumi wies auf eine Felsnadel. Gemeinsam näherten sie sich ihr in einem Abstand von fünfzig Metern. Sie erreichten eine mit Sand bedeckte Lichtung, die auf einer Seite von schwarzen Steinen, auf der anderen von Kiefern begrenzt wurde. Naoko fügte sich. Sie war kaum überrascht, dass Ayumi alles vorausgeplant hatte. Nur hier konnten sie sich miteinander messen, auf dieser Insel, auf der sie vor vielen Jahren ihr Blut zu einem ewigen Freundschaftspakt vermischt hatten.
    Ayumi blieb stehen. Der dunkle Stein hatte die gleiche Farbe wie ihr Haar und ihre Kleidung. Nur ihr Gesicht stach hervor wie ein weißer, in seinem oberen Drittel durch den Pony begrenzter Kiesel. Und dann vollführte sie die Geste, die in allen Samuraifilmen immer wieder auftaucht: Plötzlich hatte sie eine Schnur in der rechten Hand, biss ein Stück davon ab und schlang sich die Kordel so um die Schultern, dass die Ärmel die Unterarme freiließen und nicht rutschten.
    Gleichzeitig zückten sie die Schwerter, setzten sich auf ihre Fersen und hielten die Klingen aufrecht, als sollten sich die Spitzen berühren. Wie lange war es her, dass Naoko diese Geste zum letzten Mal durchgeführt hatte?
    Sie verharrten einige Minuten in dieser Stellung. Klinge gegen Klinge. Normalerweise ist diese Zeit dazu gedacht, den Gegner einzuschätzen. Doch das versuchte Naoko schon seit fünfundzwanzig Jahren und hatte trotzdem völlig danebengelegen.
    Schließlich standen beide fast synchron auf und gingen in die Kamae genannte Grundstellung. Diese Stellung hat nichts mit Abwarten zu tun, sondern ist in sich bereits ein Kampf unter einer unbeweglichen Oberfläche. Ayumi begann, langsam seitwärts zu gehen. Naoko folgte der Bewegung ihrer Gegnerin. Die Lehre des Niten macht deutlich, dass in der frühen Phase eines Kampfes das Schwert zu einer Art Antenne wird, mit der man den Angriff antizipiert – den Winkel, aus dem er erfolgt, die Reichweite des Streichs und das eigene Ausweichmanöver.
    Im letzten Augenblick riss Naoko ihr Schwert hoch und parierte einen Schlag, der so unvermittelt kam wie eine Detonation. Dann einen weiteren. Und einen dritten. Wieder nahmen sie die Grundstellung ein. In drei Metern Abstand. Erst jetzt wurde Naoko klar, dass sie nicht tot war. Noch nicht einmal verletzt. Die blitzenden Klingen waren vor ihren Augen explodiert. Regentropfen hatten sich in Funken verwandelt. Aber Naoko hatte keine der Bewegungen vorhergesehen. Sie hatte ihren Geist nicht geleert und ihre Gegnerin nicht analysiert. Es waren einzig ihre Reflexe gewesen, die sie gerettet hatten. Die Erinnerung ihrer Muskeln und Nerven.
    Wieder begann Ayumi mit ihrer Kreisbewegung. Dieses Mal hielt sie das Schwert mit beiden Händen hoch über dem Kopf. Sie ähnelte einem Richter, der dabei ist, die Lebenden und die Toten voneinander zu trennen. Naoko folgte der Rotation mit gesenktem Schwert. Ihr wurde warm ums Herz. Eine Art Hoffnung stieg in ihr auf, weil sie den ersten Angriff unbeschadet überstanden hatte. Vielleicht gelang ihr Widerstand ja besser, als sie geglaubt hatte.
    Ayumi machte einen Ausfallschritt. Naoko wich zurück. Das war das Signal. Sie spürte, wie ihr Ki aus dem Bauch und den Hüften aufstieg und in ihre Arme schoss, wo es der Klinge Schlagkraft verlieh. Ein Streich. Zwei Streiche. Drei Streiche. Nie führt man mehr als drei Angriffe aus, denn man hat nur zwei Beine.
    Beide zogen sich zurück. Es roch nach heißem Metall. Ayumi bewegte sich nicht mehr. Sie hielt das Schwert immer noch hoch. Ihr Schweigen machte Naoko Angst. Beim Kenjutsu schreit man. Der Schrei, der Kiai, ist wichtig, weil er mit gleicher Macht zuschlägt wie das Schwert. Ayumi jedoch konnte nicht schreien. Das aber verlieh ihr paradoxerweise eine zusätzliche Kraft.
    Ayumi sprang vor und griff Naokos Flanke an. Dô. Rückzug. Der nächste Angriff. Zweimal von links, einmal von vorn. Genau auf die Stirn. Men. Naoko parierte jeden Schlag. Ihre Geschicklichkeit kehrte zurück. Ayumi attackierte, wie Musashi es lehrte, indem sie lebenswichtige Stellen zu treffen versuchte: die Halsschlagader, die Pulsadern des Handgelenks, das Herz, den Kehlkopf
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