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Die Wahrheit des Blutes

Die Wahrheit des Blutes

Titel: Die Wahrheit des Blutes
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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Englisch an, präsentierte seinen Pass und bezahlte bar im Voraus. Wortlos und offenbar unbeeindruckt von seinem verbrannten Gesicht führte die Frau ihn zu seinem Zimmer, das so karg wie eine Mönchszelle wirkte. Ein Bett, ein Schrank und ein Bad – das war alles. Die Frau verschwand. Draußen auf der Straße hörte Passan Stimmen und Schritte, die näher kamen und sich wieder entfernten. Dann wurde es still.
    Zwei Uhr. Vor Tagesanbruch konnte er nichts ausrichten.
    Ohne das Licht anzuknipsen, tastete er nach seinem Kulturbeutel und genehmigte sich eine Dusche. In T-Shirt und Boxershorts putzte er sich die Zähne, drehte die Klimaanlage voll auf und ließ sich ins Bett sinken. Er rollte sich unter dem Laken zusammen und fühlte sich, als könne er so seine Energie sammeln.
    Seine einzige Waffe war dieser ermattete Körper. Noch nie hatte er als Polizist unter so schwierigen Bedingungen gearbeitet.

90
    Der Morgen dämmerte hinter schweren Regenwolken herauf. Naoko hatte Schutz in dem Heiligtum auf der Kuppe des Hügels gesucht. Es war ein etwa vierzig Quadratmeter großer, nach allen Seiten offener Pavillon aus Zypressenholz. Lackierte Pfeiler, Schindeln aus Baumrinde, ein Boden aus schwarzen Holzbohlen. In der Mitte befand sich eine Bronzeglocke mit einem dicken Seil, um die mehrere Wasserbecken angeordnet waren. Sonst gab es hier nichts. Shintoschreine sind immer leer, denn sie sollen mit Gebeten und Meditationen angefüllt werden. Naoko füllte diesen hier mit ihrer Angst.
    Trotzdem hatte sie, gewiegt vom sanften Rauschen der großen Kiefern, tief und traumlos geschlafen. In ihrem Kimono hatte sie den Eindruck gehabt, die Metamorphose eines Falters zu durchleben, allerdings in umgekehrter Reihenfolge. Noch am Tag zuvor war sie der Schmetterling gewesen, eine freie, europäisch lebende Frau. Jetzt war sie als Gefangene ihres Biotops und ihres natürlichen Zyklus zum Raupenstadium zurückgekehrt.
    Sie wühlte in ihrer Handtasche und förderte eine in Plastik verpackte Portion Reis zutage, die sie gierig aß. Der kalte, klebrige Reis wirkte belebend. Sie wusste, was das zu bedeuten hatte: Auch Jahre westlicher Ernährung hatten nichts an ihrer genetischen Veranlagung ändern können. Jahrhundertelang hatten ihre Vorfahren Reis gegessen, hingekauert im Schatten einer Pagode oder in der kühlen Frische von Reisfeldern.
    Am Abend war sie auf Utajima angekommen. Der Fischer, der sie für 10000 Yen übergesetzt hatte, ließ ihr seine Handynummer da. Für die Rückreise, wenn alles gut ging. Sie waren an einem schwarzen Strand an der Westseite gelandet. Die Kiefern und die Steinlaternen zu ihren Füßen schienen auf sie zu warten. Die Insel sah aus wie die Kulisse für einen Kampfkunstfilm.
    Sie war zum Heiligtum auf der Hügelkuppe hinaufgestiegen. Außer den Gärtnern und Reinigungskräften, die sich einmal in der Woche um den Schrein kümmerten, kam hier nie jemand her. Wenn Naoko Glück hatte, war der Reinigungstag gerade vorüber. Noch in der hereinbrechenden Dämmerung hatte sie angefangen, die zwölf Langschwert-Techniken des Itto Seiho zu trainieren. Das Resultat ließ noch sehr zu wünschen übrig, denn mit ein paar Aufwärmschritten kann niemand viele Jahre mangelnder Übung wettmachen. Außerdem hatte sie noch nie mit einem echten Langschwert geübt, weil es einfach zu gefährlich war.
    Naoko stand auf und zog sich um. Zur Trainingshose trug sie einen links über rechts geschlossenen Yukata und Turnschuhe. In seinen dunklen Farben erinnerte ihr Outfit an die einheitliche Uniform japanischer Frauen während des Zweiten Weltkriegs, die es ihnen gestattete, sich frei zu bewegen und zu arbeiten, was im Kimono nicht möglich gewesen wäre. Um ihre Taille knotete sie einen Stoffgürtel, in den sie ihr Schwert steckte. In die Hosentasche kam der Kaiken als Plan B.
    Irgendwie kam sie sich ziemlich dumm vor. Ein wenig war es so, als wäre Passan im Kostüm eines Musketiers zu einem Einsatz aufgebrochen. Trotzdem fühlte sie sich in einem inneren Gleichgewicht. Als fände eine Osmose mit der Tradition statt, die sie trug und gleichzeitig erfüllte. Im Übrigen hätte Passan es sicher nicht abwegig gefunden, in seinem Beruf den Wertvorstellungen D’Artagnans zu folgen. Im Grunde hatte er das eigentlich immer getan.
    Anstatt den Hauptweg zum Strand hinunter einzuschlagen, wandte sie sich nach Osten. Sie erinnerte sich eines Vorsprungs, von dem aus sie einen anderen Strand auf der Rückseite der Insel einsehen
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