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Die Wahrheit des Blutes

Die Wahrheit des Blutes

Titel: Die Wahrheit des Blutes
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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erste Mal, dass er selbst eines erlebte.
    Halb sieben. Er packte seine Sachen zusammen.
    Die Tür glitt zur Seite, und die Hotelchefin erschien in ihrer dunklen Schürze. Sie lachte, maulte und ächzte in allen Tonarten. Dabei verzog sie ständig das Gesicht, das jetzt fast grünlich aussah.
    »Sumimasen. Entschuldigung.«
    Als sie den enthaupteten Ventilator entdeckte, folgte eine neuerliche Litanei. Passan nahm seine Tasche und verabschiedete sich, ohne sich noch einmal umzudrehen.
    Die Situation, die er draußen vorfand, passte weder zu dem strömenden Regen noch zu einer derart frühen Morgenstunde. Leute standen auf den Straßen, lachten, redeten wild durcheinander und waren froh, dem Zorn der Erde noch einmal entkommen zu sein. Alle Vögel der Umgebung schienen auf den Elektrokabeln zu sitzen und zu zetern.
    Passan ging das Gässchen hinauf und suchte nach einem Taxi. Seit dem Vortag war es noch wärmer geworden. Trotz der frühen Stunde fühlte man sich wie in einem Waschkessel.
    Er wandte sich nach rechts in eine größere Durchgangsstraße. Straßenschilder waren heruntergefallen, Klimaanlagen und Antennen hingen schief, und Mülltonnen kollerten über die Straße. Er winkte einem Taxi. Mithilfe des Wörterbuchs, das er sich in Roissy kurz vor seinem Abflug gekauft hatte, nannte er sein Fahrziel – den Fischereihafen.
    »Gyokoo«, sagte er.
    Der Fahrer ließ ihn das Wort mindestens zehn Mal wiederholen, bis er es schließlich selbst aussprach und verblüfft nickte, als hätten die Silben jetzt endlich den richtigen Sinn gefunden.
    Das Taxi schlängelte sich durch die Straßen. Passan erkannte die Stadt seiner Erinnerungen wieder. Die braunen, an die Hügelflanke geklebten Dächer, die Kiefern in den Gärten, die kleinen Schreine aus Stein. Viel Grau und viel Grün. Die regennassen Dachziegel sahen wie Fischschuppen aus. Die Häuserecken bildeten eine Brandung wie ein verdrossenes Meer mit dunklen Schaumkronen. Nagasaki war eine Küstenstadt – daran bestand kein Zweifel.
    Passan entdeckte eine Garküche, ließ das Taxi anhalten und rannte hinüber zum Grill. Er bestellte fünf Fleischspieße, die er an Ort und Stelle unter einem Vordach verspeiste, während er dem Plätschern in der Regenrinne lauschte und sich fragte, ob diese Pause vernünftig war. Aber drängte die Zeit wirklich so sehr? Würde es tatsächlich heute zur Konfrontation kommen? Oder erst morgen? Oder in drei Tagen?
    Es ging weiter. Nach zehn Minuten Fahrt beschrieb die Küstenstraße eine Kurve, und Passan erblickte die von der Megami-Brücke überspannte Bucht. Im Hafen lagen eine Menge Boote, die sich auf dem Wasser wiegten und ihre Masten vor dem Regenvorhang kreuzten.
    An der Küste sah es gar nicht mehr exotisch aus. Schmucklose Betonblocks wechselten sich mit Lagerhallen und Kränen ab. Alles war einheitlich grau. Nagasaki ist berühmt für seine Perlenzucht. Für Passan sah es so aus, als wäre der gesamte Ort aus Perlmutter. Jedes Dach, jede Fassade und jeder Schiffsrumpf schien unter einer harten, widerstandsfähigen Perlmuttschicht zu liegen. Die Bucht öffnete sich wie eine überdimensionale Muschel, die Meerwasser und salziges Licht reflektierte.
    Passan verscheuchte seine Traumbilder und ließ sich vor der Hafenmeisterei absetzen. Ein Fischmarkt war in vollem Gang. Er rannte zwischen Armeen von Krebsen, Bergen von Austern und Massen von Thunfisch und Kabeljau hindurch. Es roch nach Jod. Plattnasige Gesichter lächelten ihm zu. Alte verhutzelte Frauen, die aussahen, als hätte man sie in Salz mariniert, schnüffelten an den zum Verkauf stehenden Fischen. Niemals wäre man auf die Idee gekommen, dass nur eine halbe Stunde früher hier die Erde gebebt hatte.
    Passan schwang sich seine Tasche über die Schulter und erreichte den Landungssteg. Hastig lief er am Kai entlang und rief jedem Fischer den Namen Utajima zu. Beim fünften Versuch verbeugte sich ein Greis mit einer Baseballkappe und sagte immer wieder »Hai, hai«. 20000 Yen sollte die Fahrt kosten. Passan bezahlte, ohne zu verhandeln. Er hatte weder Zeit noch Lust zum Feilschen.
    Der Motor knatterte. Der Fischer manövrierte sein Boot zwischen den anderen Schiffsrümpfen entlang. Der Regen nahm wieder zu. Es war ein nervöses Prasseln, das sich wie eine Gänsehaut auf den Wellen abzeichnete. Nachdem sie die Bucht verlassen hatten, wurde die Dünung plötzlich stärker, als atme das Meer tief durch. Sie glitten auf riesenhaften Lungen dahin und tauchten in schwarze
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