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Die Wahrheit des Blutes

Die Wahrheit des Blutes

Titel: Die Wahrheit des Blutes
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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und die Leber.
    Rückzug. Nun ging Naoko in die Offensive. Sie wollte den Kontakt, den Kampf, den Todestanz nicht mehr abreißen lassen. Sie wollte ihre Gegnerin ermüden, aber auch ihre eigenen Überlebenschancen ausloten. Sie wollte sich an den Rand des Abgrunds wagen. Erster Angriff. Zweiter Angriff. Dritter Angriff.
    Ayumi wich einen Schritt zurück. Naoko ebenfalls. Es war die Erschöpfung, die sie trennte. Der Regen besorgte den Rest. Naoko war zwar nicht verletzt, aber sie hatte längst begriffen, dass sie diesen Kampf nicht gewinnen konnte. Sie konnte sich höchstens bis zum Ende behaupten. Schließlich kämpfte sie um ihre Kinder.
    Wieder stürmte Ayumi heran. Naoko spürte, wie ihre Finger auf dem geflochtenen Leder des Schwertgriffs vibrierten. Sie war außer Atem. Ihre Augen tränten. Ihr Blut brannte in ihr. Sie verspürte eine Art von Trunkenheit. Das Gefühl der Samurai, die in einer Trance aus Ehre und Zerstörung sterben.
    Sie schrie laut auf und zielte auf die Flanke ihrer Gegnerin. Zog sich zurück und griff erneut an. Diesmal von vorn. Ayumi hob ihr Schwert. Naoko schlug zu. Ayumi parierte jeden Schlag. Sie schien zu fliegen.
    Naoko war am Ende ihrer Kraft. Sie geriet ins Straucheln und konnte sich gerade noch an einem der schwarzen Felsen halten. Trotz des Regens spürte sie, dass ihre Hand klebrig wurde. Blut. Ayumi stürzte sich schon wieder auf sie.
    Der Aufprall der Klingen ließ ihre Knochen erbeben. Es war das Ende. Der Stahl war gebrochen. Man sagt, dass für die Härtelinie eines Langschwerts nur eines entscheidend ist: die Liebe seines Besitzers. Naoko hatte ihr Schwert nie gepflegt, und diese Nachlässigkeit würde sie das Leben kosten. Sie warf den Katana von sich und suchte in ihrer Tasche nach dem Kaiken.
    Mit einem Sprung zur Seite rettete sie sich im letzten Augenblick vor einem tödlichen Ansturm.
    Ayumi hatte ihr zweites Schwert aus der Scheide gerissen und ließ die beiden Klingen durch die Luft zischen. Der besondere Stil von Miyamoto Musashi. Ihre Geschwindigkeit war beeindruckend. Naoko fand sich am Boden wieder. Es gelang ihr nicht, den Kaiken aus der Tasche zu ziehen.
    Auf allen vieren flüchtete sie sich in eine Höhlung zwischen den Felsen. Die Klinge folgte ihr und fuhr mit einem schrecklich kreischenden Geräusch über den Stein. Naoko musste an Ching-Chang-Chong denken: Stein schlägt Schere, Papier schlägt Stein, Schere schlägt Papier … Sie spürte, wie Ayumi an ihren Füßen zerrte. Mit einem Aufbäumen drehte sich um und blickte Ayumi direkt ins Gesicht. Ihre Augen waren nur noch zwei schmale Schlitze in einer Maske aus Fleisch und Blut.
    Ohne zu überlegen, begann Naoko zu strampeln, doch Ayumi hielt ihre Knöchel wie mit einem Schraubstock. Als Naoko sich schließlich im Freien wiederfand, stellte sie fest, dass Ayumi ihre beiden Schwerter hatte fallen lassen, um ihr nachzulaufen. Sie schnellte nach vorn und biss Ayumi in die Wange. Ayumi jedoch riss so fest an ihren Haaren, dass sie sich gezwungen sah, loszulassen.
    Erneut wurde Naoko gegen die schwarzen Vulkansteine katapultiert. Der Aufprall nahm ihr den Atem. Sie schloss die Augen. Als sie sie wieder öffnete, hielt Ayumi ihren Katana in der Hand. Naoko warf sich auf den Wakizaki und richtete sich mit dem Schwert in der Hand auf.
    Auch wenn das Ende nah war – sie würde nichts bereuen.
    Sie hatte getan, was sie konnte.

93
    Passan streifte noch um den Schrein, als er in der Ferne das Klirren von Stahl hörte. Der Wind hatte gedreht. Passan lauschte angestrengt. Die Geräusche kamen vom Fuß des Hügels, aus Richtung des Strandes. Doch genau da war er hergekommen. Wieso hatte er sie verfehlt?
    Er rannte los. In Windeseile stürmte er den Pfad hinunter. Kiefernnadeln zerkratzten sein Gesicht. Jemand schrie. Als er den Strand erreichte, veränderten sich die Schreie und wurden zu schrecklichen, kehligen Geräuschen.
    Passan blickte sich um. Alles ringsumher war schwarz. Unter einem rußigen Himmel klatschten Wellen an den dunklen Strand. Selbst der Schaum, der über den Sand getrieben wurde, sah grau, düster und wie Auswurf aus.
    Der Strand war leer. Das Schreien hatten aufgehört. Zu seiner Linken entdeckte Passan eine Felsformation, die ihn an Votivsteine erinnerte. Instinktiv wandte er sich in diese Richtung. Als er zwischen den Steinen hindurchglitt, erwartete er fast, auf eine schamanische Zeremonie oder ein Hexenritual zu stoßen.
    Vor einem Kiefernhain bewegten sich zwei vom Regen durchnässte
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