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Die Wahrheit des Blutes

Die Wahrheit des Blutes

Titel: Die Wahrheit des Blutes
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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konnte – einen verborgenen Zugang.
    Der Regen ließ nicht nach. Er verwandelte jede Steinplatte des Weges in einen Spiegel. Naoko dachte an Ayumi. Sie fürchtete sich nicht vor ihr. Ihre Verbrechen und ihr Wahnsinn konnten die Erinnerungen an schöne Zeiten nicht überlagern. In ihrem tiefsten Innern hoffte Naoko immer noch auf eine Einigung.
    Sie erreichte die Terrasse, begriff aber sofort, dass der Aussichtspunkt ihr nichts nutzte. Entweder war Ayumi noch nicht auf der Insel und konnte ebenso gut auf der anderen Seite landen, oder sie war bereits da. Dann aber war es sicher besser, sie nicht auf einer Kuppe zu erwarten, wo es keine Deckung im Rücken gab.
    Naoko kehrte um und stieg zur westlichen Seite hinunter, vermied jedoch den inneren Teil der Insel. Keinesfalls würde sie diesen ihr unbekannten Dschungel durchqueren. Sie hatte vor, sich an den Hauptstrand zu setzen und zu warten.
    Längst dachte sie an gar nichts mehr. Stunden, vielleicht nur noch Minuten, vor dem Kampf war ihr Kopf völlig leer. Sie fühlte sich wie tief ins Leben eingetaucht und im Gleichklang mit der Natur – ähnlich einer Raupe. Sie wurde eins mit dem Regen, hieß ihn willkommen und nährte sich von ihm. Ganz wie der Wald, der an diesem Morgen mehr Leben empfing, als er gab.
    Vom Strand aus hatte man kaum Aussicht. Die Wolken hingen wie überdimensionale Bimssteine am Himmel. Die Wellen sahen aus wie aus Teer. Aus der Brandung stieg Dunst auf und verstärkte den Eindruck von heißem Asphalt. Ein Bleivorhang verhüllte den Horizont.
    Plötzlich wurde ihr schwindelig. Alles schien ins Wanken zu geraten. Das Meer kippte. Der Boden schwankte. Rasch jedoch fand Naoko ihr Gleichgewicht wieder, und das Gefühl verschwand. Sie versuchte noch, zu verstehen, was mit ihr los war, als es schon wieder begann. Heftiger als zuvor. Sie stürzte. Da erst begriff sie, dass sie nicht etwa träumte.
    Ein Erdbeben.
    Seit dem letzten großen Erdbeben wurde das Land jede Woche von mehr oder weniger starken Erdstößen erschüttert. Kein Mensch konnte sagen, ob es sich bei dieser seismischen Aktivität um die Vorboten einer neuerlichen Katastrophe handelte oder ob es nur Nachbeben waren. Eine Legende erzählt, dass Japan auf dem Rücken eines riesigen Katzenfischs liegt, der sich unaufhörlich bewegt. Aber niemand weiß, ob dieser Fisch gerade aufwacht oder ob er einschläft.
    Naoko, die auf den Knien im schwarzen Sand lag, musste lächeln. Der Erdstoß war ein Vorbote gewesen.
    Vielleicht nicht für das Ende der Welt, aber für das Ende ihrer Welt …

91
    Passan schreckte unsanft aus dem Schlaf auf. Er war aus dem Bett gefallen. Durch das Fenster sah er die Landschaft erzittern wie ein schlecht eingestelltes Fernsehbild. Der nächste Stoß. Die Vorhänge fielen herunter. Der Deckenventilator begann zu quietschen und schwankte gefährlich an seiner Aufhängung. Passan lag auf allen vieren da und spürte, wie der Boden unter ihm schwankte.
    Dann wurde es wieder ruhig. Nur er selbst zitterte an allen Gliedmaßen. Wenn nichts mehr aufrecht stand, was blieb dann noch? Nur die Erde unter den Füßen. Und nun brach auch noch der letzte Fixpunkt, die letzte Zuflucht zusammen. Ein dritter Stoß erschütterte das Haus. Gips staubte auf Bett und Boden wie Zucker auf einen Kuchen. Das ganze Hotel wackelte. Passan erinnerte sich, dass man in einem solchen Fall Schutz unter einem Tisch suchen sollte.
    In seinem Zimmer jedoch gab es keinen Tisch. Er wollte gerade zum Bett zurückkriechen, als der Ventilator herunterkrachte. Das Gerät prallte von der Matratze ab, donnerte auf den Boden und drehte sich wie ein wild gewordener Kreisel. Passan konnte gerade noch zur Seite springen. Mit dem Rücken zur Wand kauerte sich er auf den Boden und wartete, bis die Rotorblätter sich nicht mehr bewegten und die Erde sich beruhigte. Die Rückkehr zur Normalität.
    Sekunden vergingen. Sie dehnten sich, erschienen endlos. War es wirklich vorüber? Oder würde es noch einmal losgehen? Passan hörte, wie im Flur jemand vor sich hinschimpfte. Wahrscheinlich war es die Hotelchefin, die sich über die Schäden ärgerte, die das morgendliche Beben hinterlassen hatte. Aber sie schien keineswegs sonderlich erregt zu sein, reagierte eher so, als hätte nur wieder einmal die Katze etwas angestellt.
    Passan richtete sich auf und schüttelte sich ungläubig. Ein Erdbeben. Das hatte ihm gerade noch gefehlt. Zwar hatte er schon viele Berichte über ähnliche Ereignisse gelesen, aber es war das
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