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Die Wahrheit des Blutes

Die Wahrheit des Blutes

Titel: Die Wahrheit des Blutes
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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hohen Brücke überquert wurde, blieb er stehen. Trauerweiden duckten sich unter dem Regen und schienen ihr aufgewühltes Spiegelbild zu betrachten.
    Shigeru überholte ihn und lief durch die Gassen, als folge er einem geheimnisvollen roten Faden. Passan rannte ihm nach. Zwanzig vor elf. In einer Stunde startete das Flugzeug. Bis zum Flughafen Haneda würden sie mindestens dreißig Minuten brauchen. Noch hatte er eine Chance – vorausgesetzt, sie fanden jetzt sofort einen Wagen.
    »Olivier-san!«
    Shigeru erwartete ihn vor der offenen Tür eines erbsengrünen Taxis. Passan ließ sich in den Sitz fallen. Die Kälte der Klimaanlage schien seine durchnässten Kleider mit einem Eisfilm zu überziehen. Angesichts der Sauberkeit der Fahrgastzelle mit ihrem Eukalyptusduft und den gestickten Deckchen kam er sich vor wie ein Elefant im Porzellanladen.
    Der Chauffeur fuhr sofort los. Shigeru hatte ihm vermutlich erklärt, wie sehr die Zeit drängte. Passan drehte sich um und betrachtete das Viertel, das langsam in den Wassermassen verschwand. Die braunen, an den Ecken gebogenen Dächer, die Dampfschwaden, die Laternen vor den Türen. An der nächsten Ecke tauchten wieder die Leuchtreklamen von McDonald’s und Starbucks auf. Lichtpfeile, Neonbuchstaben – sie waren zurück im modernen Tokio.
    Passan überdachte noch einmal, was er erfahren hatte. Jede einzelne Information hatte ihn ein Stück weiter von Naoko, seiner Ehe und den Jahren entfernt, die er mit ihr verbracht hatte. Jetzt erst stellte sich heraus, dass seine gesamte Existenz vor Kulissen stattgefunden hatte. Japanischen Kulissen.
    »Wundere dich nicht zu sehr«, sagte Shigeru, als habe er Passans Gedanken erraten.
    »Worüber?« Passan lachte bitter auf. »Dass meine Frau unsere Kinder von einer Verrückten hat austragen lassen? Dass sie nie mit mir darüber gesprochen hat? Oder dass sie sich auf einer gottverlassenen Insel im Chinesischen Meer auf einen Schwertkampf vorbereitet?«
    »Ich bin ebenso schockiert wie du, Olivier-san.«
    »Nein, das bist du nicht. Und das ist überhaupt das Allermerkwürdigste. Hier wird das Oberste nach unten gekehrt, und du scheinst das alles ganz normal zu finden.«
    »Das ist der Bushido«, gab Shigeru zurück. »Der ›Weg des Kriegers‹.«
    Nun musste Passan wirklich lachen. Der Ehrenkodex der Samurai. Eine Philosophie von Untertänigkeit und Ehre, die bis hin zur blinden Unterwerfung führen konnte.
    »Willst du behaupten, dass Naoko sich nach den Regeln des Bushido richtet?«
    »Es ist wohl die Option, die ihr am natürlichsten erschien.«
    Passan wollte erneut lachen, doch das Lachen erstarb ihm in der Kehle. Er beugte sich zu Shigeru hinüber. Aus seinen durchnässten Kleidern stiegen warme Ausdünstungen. Er roch nach Schweiß und dem Sumpf der Großstadt. Und er roch nach Angst und Verwirrung.
    »Ich habe zehn Jahre mit Naoko gelebt«, sagte er. »Du kannst mir nichts weismachen, was deine Schwester betrifft. Und wenn es jemanden gibt, der den traditionellen Werten definitiv den Rücken gekehrt hat, dann ist sie es.«
    Shigeru hatte seine Hände auf die Oberschenkel gelegt und hielt sich sehr gerade. Mit steifem Nacken starrte er auf die Straße. Es war eine geradezu feierliche Haltung. Nichts erinnerte mehr an den coolen Typ, als der er sich normalerweise gab.
    »Ganz gleich, was sie behauptet: Sie hat diese Wertvorstellungen im Blut.«
    Passan spielte den Advocatus Diaboli. Er argumentierte, wie Naoko es getan hätte.
    »Der Bushido ist ein alter, längst überholter Hokuspokus. In den Dreißigern haben die Militärs ihn aus der Versenkung geholt und ein bisschen aufgepeppt, um die Massen damit um den Finger zu wickeln. Dieser Schwindel hat mehr als zwei Millionen junger Soldaten das Leben gekostet.«
    Shigeru rückte seine Brille zurecht.
    »Hier geht es weder um das Alter noch um die Berechtigung des Kodex«, gab er ungerührt zurück. »Die Frage ist doch, warum er bis heute funktioniert hat. Warum haben sich die Japaner von den alten Regeln faszinieren lassen wie das Volk der Juden von den zehn Geboten? Weil es uns im Blut liegt, Olivier-san. Und zwar schon seit Jahrhunderten. Wir werden aus einem Körper geboren und von unseren Genen bestimmt, aber ganz tief in unserem Innern werden wir durch Ideen erschaffen.«
    Das war es also. Ihm, der immer von diesem Credo der Samurai geträumt hatte, war der Bushido stets fremd geblieben. Naoko jedoch, die ihn immer abgelehnt hatte, war bis in ihre kleinste Faser davon
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