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Die Wahrheit des Blutes

Die Wahrheit des Blutes

Titel: Die Wahrheit des Blutes
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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gekommen – Ayumi war ihm immer noch zu nah. Da probierte er es anders. Er holte tief Luft, tauchte, arbeitete sich bis zum Ufer vor und versteckte sich zwischen dem Schilf. Ayumi hieb blindlings drauflos und köpfte Binsen und Sumpfschwertlilien. Passan bewegte sich nicht. Er stand bis zum Hals im Wasser und klammerte sich an Grünzeug.
    Schließlich zog er den Kaiken aus dem Gürtel. Vielleicht konnte er halb auftauchen und Ayumis Beine erreichen. Nein, das ging nicht. Ehe er auch nur den Arm ausstrecken könnte, hätte sie ihn längst enthauptet. Also tauchte er wieder ein. Er schluckte Wasser. Die Strömung trieb ihn ab. Wurzeln schlangen sich um seine Gliedmaßen.
    Plötzlich wurden seine Füße in eine seitliche Vertiefung gesaugt. Ein Loch in der Uferböschung. Das Schwert glitt durch das Blattwerk und riss ihm ein Stück Kopfhaut weg. Das war sein Signal. Er ließ sich von der Strömung in den Tunnel saugen und hoffte, irgendwo wieder an die Oberfläche zu kommen. Er drehte sich in Sogrichtung und schwamm. Bereits nach wenigen Schwimmstößen musste er gegen die aufsteigende Panik ankämpfen. Bestimmt würde er in dieser Kloake ertrinken. Sofort stemmte er sich gegen den Strom und tastete die Wände ab, um zurückzufinden. Doch es ging nicht. Der Schlauch war viel zu eng, und die Strömung trieb ihn weiter vorwärts.
    Passan rief sich zur Ordnung. Wenn es eine Strömung gab, dann musste es auch einen Ausgang geben. Er dachte an Wasseradern, einen unterirdischen Kreislauf oder ein Netz von Kanälen, das ihn irgendwann wieder ans Tageslicht befördern würde. Er versuchte seinen Vorwärtsdrang zu beschleunigen, doch auch das gelang ihm nicht. In jeder Sekunde wurde die Schwärze um ihn herum dichter und tiefer.
    Seine Lungen brannten. Seine Kehle schmerzte. Ihm war bewusst, dass in seiner Situation der Atemreflex sein gefährlichster Feind war. Nach einer gewissen Zeit ohne Sauerstoff setzte die Atmung von selbst wieder ein, ganz gleich, wie die Konsequenzen aussahen.
    Er würde die Lippen öffnen …
    Er würde …
    Plötzlich schrie er auf. Es war wie eine Explosion. Leben brandete wie Feuer durch seine Lunge. Der Himmel! Sauerstoff! Sein Schrei verwandelte sich in ein lautes Lachen. Er wandte sich um und sah das Ufer der Insel, als wäre er an seinen Ausgangspunkt zurückgekehrt. Tatsächlich aber war er unter der Landzunge hindurchgetaucht und auf der anderen Seite der Bucht gelandet.
    Er stemmte sich hoch und betrachtete den Kaiken, den er immer noch in der Hand hielt. Schnell huschte er wieder in den Wald. Pflanzen, Bäume und Lianen bewegten sich wie Algen im Meer. Ein Rauschen wie von Wellen war zu hören. Passan löste sich in einer grünen flüssigen Welt auf. Ihm war, als wäre er überhaupt nicht aus dem Wasser gestiegen.
    Bald hatte er Ayumi entdeckt, die noch immer wütend auf die Oberfläche des Flusses einhieb. Sie ahnte nicht, in welcher Gefahr sie schwebte, und war ihm jetzt absolut unterlegen, was ihn mit einer dumpfen Befriedigung erfüllte. Ohne jede Vorsichtsmaßnahme näherte er sich ihr.
    Fünf Meter.
    Er hielt den Kaiken vor sich.
    Drei Meter.
    Er hatte den Eindruck, die pflanzliche Membran zu durchstoßen wie ein Schwert, das in das Fleisch des Feindes eindringt.
    Ein Meter.
    In diesem Moment drehte Ayumi sich um und hob ihr Schwert. Passan hatte gerade noch Zeit, zurückzuspringen. Die Klinge sauste nieder. Plötzlich war überall Blut, doch er verspürte keinen Schmerz. Und der Kaiken war verschwunden. Als er aufblickte, stand Ayumi vor ihm. Sie ließ den rechten Arm am Körper entlangbaumeln, hielt das Schwert parallel zum Boden und sah ihn mit erstauntem Gesicht an.
    Dann sprudelte ein Blutstrom aus ihrem Mund.
    Der Kaiken steckte in ihrer linken Brustseite. Es war eine Reflexhandlung gewesen – in der Zeit, die sie brauchte, ihr Schwert zu heben. Passan fiel auf die Knie und sah, wie sie zuckte, bis auch sie in die Knie ging. Blut drang ihr aus Mund und Nase und vermischte sich mit dem Regen. Sie ließ das Schwert los und streckte die Hände nach ihm aus. Er ergriff sie, hielt sie fest und dachte daran, dass diese Frau seine Kinder ausgetragen hatte. So würde er sie immer in Erinnerung behalten – mit geradem Rücken, gebogenem Nacken und auf ihren Fersen sitzend. In der Seiza-Haltung.
    In ihrem Blick erkannte er eine unerreichbare Finsternis, die kein Regen je fortwaschen konnte. Gleichzeitig aber zeigte ihr Gesicht etwas Kindliches. Eine Hilflosigkeit, der er die
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