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Die Wahrheit des Blutes

Die Wahrheit des Blutes

Titel: Die Wahrheit des Blutes
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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Höhlen ab, um dann wieder auf schaumige Gipfel emporgehoben zu werden. Ein unendlicher Kreislauf.
    Passan saß im Bug, klammerte sich an die Bordwand und spürte, wie der Glasfiberrumpf auf die Wogen klatschte. Er konnte kaum etwas sehen, sondern spürte nur die Regenwand, die sie mit feinen Tröpfchen besprühte. Nach einer halben Stunde drosselte der Fischer das Tempo. Der Motorenlärm sank um eine Oktave. Das Boot passte sich den Bewegungen des Meeres an. Passan schirmte die Augen mit der Hand ab und erkannte in der Ferne einen braun-grünen Fleck.
    »Utajima!«, rief der Fischer.
    Die Insel sah aus wie eine vom Himmel gefallene Wolke. Der vulkanische Strand prunkte in tiefem Dunkelbraun, während der Hügel ein strahlendes, wie vom Gewitter frisch gewaschenes Grün zeigte. Vor dem Wald sah Passan einen geheimnisvollen roten Punkt und erkannte rasch, dass es sich um ein Torii handelte – eines jener Portale aus lackiertem Holz, die den Eingang zu einem Heiligtum bilden. Die gesamte Insel galt als heiliger Boden. Die Leute glaubten, dass hier die Kami – die Geister des Shintoismus – ihre Heimstatt hatten.
    Dem Fischer gelang es, das Boot sehr nah an den Strand heranzumanövrieren. Passan sprang an Land und verabschiedete sich von dem Seemann, speicherte aber zuvor noch seine Handynummer ein. Dann wandte er sich dem Wald zu. Unter dem Torii hindurch schlängelte sich ein Weg auf die Hügelkuppe hinauf. Passan ging unter dem umgekehrten Bogen bergan. Einige Bäume am Wegrand waren mit Bändern umschlungen, was bedeutete, dass sie von Kami bewohnt wurden. Je höher er kam, desto stärker wurde der Eindruck, in eine Art Feenwald einzudringen.
    Wie zur Bestätigung tauchte der Schrein auf der Kuppe auf. Es war eine luftige Pagode, deren geschwungenes Dach auf dunklen Holzpfeilern ruhte. Im Schatten erkannte Passan die Bronzeglocke, die Becken und den Altar mit den Opfergaben.
    Er stieg die Stufen hinauf und entdeckte am Fuß einer Säule Naokos Tasche. Es war eine Art Rucksack aus wasserdichtem Gewebe mit vielen Fächern, den sie immer gelobt hatte – er sei geräumig, dicht und äußerst funktional.
    Der Anblick presste ihm das Herz zusammen. Sie war also hier. Aber hatte die andere sie vor ihm gefunden?
    Sicher war nur eines: Die Jagd hatte begonnen.

92
    Seit den Erdstößen lag Naoko auf den Knien im Sand und hatte sich nicht mehr bewegt. Sie hätte beim besten Willen nicht sagen können, wie viel Zeit vergangen war. Ein paar Minuten? Eine Stunde? Viele Stunden?
    Der Strand war mit Millionen kleiner Löcher durchsetzt wie eine gigantische Orangenschale. Vom Wind abgerissene Blätter lagen überall auf dem Boden. Kleine Wellen brandeten heran. Schaumflocken wehten über den Sand. Sie machte sich keine Gedanken mehr. Würde sie im Regen ertrinken? Oder würden die Wellen, die immer näher zu kommen schienen, sie einatmen und mitnehmen? Sie wusste es nicht.
    Plötzlich spürte sie etwas. Es war nur ein Gefühl. Sie hob den Kopf. Regentropfen rannen in ihre Augen.
    Und da stand sie.
    Immer noch hatte sie diesen Pony, der sie wie einen Pudel aussehen ließ, und immer noch waren ihre Augen zu stark geschlitzt. Sie hatte ihr Haar zu einem Knoten zusammengerafft, wie ihn die Sumoringer trugen. Gekleidet war sie in einen schwarzen Keikogi, eine Jacke, die man während der Übungen trug, und einen ebenfalls schwarzen Hakama, den Hosenrock der Samurai. Ihre Schwerter, der Katana und der Wakizaki, steckten mit der scharfen Seite nach oben in ihrem Gürtel. Die beiden Futterale aus lackierter Magnolie kreuzten sich auf ihrer Hüfte wie in den alten Filmen von Toshiro Mifune.
    Ayumis Auftritt wirkte irgendwie komisch, doch Naoko war nicht nach Lachen zumute.
    Behutsam stand sie auf und wäre um Haaresbreite gleich wieder hingefallen. Ihre tauben Beine trugen sie nicht mehr. Sie war es nicht mehr gewöhnt, am Boden zu leben.
    Nachdem sie ihr Gleichgewicht wiedergefunden hatte, sagte sie:
    »Wir können uns immer noch verständigen.«
    Nur Sekundenbruchteile später blinkte ein Schwert in Ayumis Hand. Naoko hatte nicht einmal gesehen, wie sie es zückte. Schlagartig wurde Naoko klar, dass Ayumi nie mit dem Training aufgehört hatte und dass ihre eigenen Chancen gegenüber der Stummen gleich null waren.
    Langsam senkte Ayumi ihre Waffe und schrieb mit der Schwertspitze Schriftzeichen in den Sand.
    »Zu spät«, las Naoko.
    Ayumi steckte das Schwert in ihren Gürtel zurück. Dabei nahm sie nach traditioneller Art die
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