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Die Visionen der Seidenweberin (German Edition)

Die Visionen der Seidenweberin (German Edition)

Titel: Die Visionen der Seidenweberin (German Edition)
Autoren: Hannes Wertheim
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du deiner Schwester.«
    Melchior warf dem jungen Mann einen raschen Seitenblick zu. Mißbilligung lag darin. Er unterdrückte dieses Gefühl, räusperte sich und sagte: »Erzähle mir von ihr. Erzähle mir von meiner Familie, denn du weißt mehr über sie als ich.«
    »Warum hast du dich von ihnen losgesagt?« fragte Lazarus statt dessen.
    »Mein Vater war ein elender Tyrann. Gewiß war ich nicht nach seinem Wunsch geraten, doch seine Schläge, seine beständigen Tadel taten nichts zu meiner Besserung. Meine Mutter verwöhnte und verzärtelte mich in blinder Liebe, weil auch sie unter der Kälte seines Herzens litt. Mit kurzen Worten, ich war ein verzogener, hochmütiger Bengel, der keine Zucht duldete.«
    »Darin«, unterbrach ihn Lazarus lächelnd, »erinnerst du an deine andere Schwester.«
    »Juliana? Sie war ein schönes, blondes Kind, als ich das Haus verließ. Ich war mir sicher, daß meine Mutter bald alle ihre Hoffnungen auf sie setzen würde, und schlug darum alle Zweifel an meinem Entschluß in den Wind. Was ist aus ihr geworden? Ist sie verheiratet? Ist sie so schön, wie sie es als Kind zu werden versprach?«
    Zögernd begann Lazarus mit seinem Bericht, darauf bedacht, Melchior nicht zu verletzen und doch der Wahrheit treu zu bleiben. Immer wieder kehrte er in seinen Erzählungen zu Columba zurück, und immer wieder quittierte der Feldhauptmann die Erwähnung seiner jüngsten Schwester mit einem mißbilligenden Blick, der Lazarus entging.
    Das Bettelvolk um sie herum entzündete bereits Feuer, die Nacht brach herein, als endlich Rebecca und Tringin zu ihnen traten. Lazarus sprang auf und freute sich, als er das Lächeln Rebeccas sah.
    »Sie ist wach«, sagte die Frau in der Beginentracht erschöpft, aber freundlich. Lazarus wollte zu ihr, doch Rebecca hielt ihn zurück.
    »Nein«, sagte sie sanft, »dein Anblick wäre mehr, als sie zur Zeit ertragen könnte. Ich erzählte ihr von Melchior, ihrem Bruder. Sie verlangt, ihn zu sehen.«
    Enttäuscht wandte Lazarus sich ab, Tringin gesellte sich zu ihm und sprach tröstend auf ihn ein, gab ihm Hoffnung, was die Verletzung des Mädchens betraf. Der Feldhauptmann warf dem Paar einen letzten Blick zu, dann betrat er den Bretterverhau, um seine Schwester, von der er nun einiges erfahren hatte, als liebender Bruder zu begrüßen.
    Lange schwiegen sie, hielten sich bei den Händen, so fest, als könnten sie ihr Glück nicht fassen, endlich eine verwandte Seele gefunden zu haben. Ungern zerteilten sie das zarte Band des Gefühls mit Worten. Columba machte endlich den Anfang, fragte nach den Abenteuern des unbekannten Bruders, gab im Gegenzug einen Bericht über ihr Leben, die Abenteuer der vergangenen Monate, den Tod der Mutter. Als das erzählt war, schwieg sie eine Weile.
    »Bist du erschöpft?« fragte der Bruder fürsorglich. Columba schüttelte leicht den Kopf. »Nicht zu erschöpft, um dich zu lieben, Melchior.«
    Der Söldner wandte den Kopf ab und fluchte über den Qualm, der ihm so in den Augen biß, daß sie tränten.
    »Einen Bruder wie dich«, sagte Columba sanft, »habe ich mir immer gewünscht. Einen, dem ich alles erzählen darf. Wäre da nicht Lazarus, liebster Melchior, so könnte ich mit aller Aufrichtigkeit sagen, daß du der einzige Mann in meinem Herzen bist.«
    Jäh drehte Melchior den Kopf zu ihr hin. »Lazarus?«
    Aufgeregt richtete sich Columba auf. »Sage nicht, daß ich mich täuschte! Ich glaubte fest, daß ich ihn in der letzten Nacht im Kelterhaus durch die Tür stürmen sah. Er war es doch, der sich Anna in den Rücken warf, der mich vom Boden aufhob, an mich drückte. Bruder, was ist dir, warum schaust du mich so traurig an? Rede.«
    Der Haß, so heißt es, wohnt Tür an Tür mit der Liebe. Ebenso empfand Melchior in diesem Moment. Nicht seine Schwester nährte dieses Gefühl, es war Lazarus. Lazarus, wie er ihn zuletzt bei Tringin hatte stehen sehen. Lazarus, wie er ihm beim Schein der Feuer von Columba erzählte, so warm, so leidenschaftlich, so verlogen.
    Er schaute in die flehenden Augen seiner Schwester. Wieder das Flackern eines Feuers. Nein, er wollte nicht lügen, nichts verschweigen. »Liebste Columba. Du irrst dich nicht. Lazarus lebt.«
    Columba sank auf ihr grobes Lager zurück, ein Lächeln entspannte ihre Züge. »Bringe ihn zu mir«, sagte sie leise, »ich wollte ihn nur ein wenig warten lassen, weil er mich so lange warten ließ.«
    Verlegen fuhr sich Melchior mit der Hand durch die Haare. Räusperte sich, dann war
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