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Die Vipern von Montesecco

Die Vipern von Montesecco

Titel: Die Vipern von Montesecco
Autoren: Bernhard Jaumann
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mit ihm verschwägert war.
    »Trinkt ihr?« fragte Ivans Cousin Paolo Garzone. Er griff nach der Weinflasche. Sie wirkte zerbrechlich in seiner Pranke.
    Ivan schob ihm ein Glas zu. Sgreccia schüttelte den Kopf.
    »Für mich gemischt mit Sprite«, nuschelte Franco Marcantoni aus seinem zahnlosen Mund. Er verschluckte das »t« und sprach den Vokal so aus, daß das Wort wie »Spray« klang.
    »He, Marta, eine Sprite für Franco«, rief Ivan seiner Frau zu.
    »Nicht mal ein Gläschen, Angelo?« fragte Paolo.
    Sgreccia schüttelte den Kopf. Es war allgemein bekannt, daß er nie trank. Als Lastwagenfahrer könne er auf seinen Führerschein nicht verzichten und wolle deshalb gar nicht mit der Sauferei anfangen, hatte er mal erklärt. Niemand glaubte, daß das der wahre Grund für seine Abstinenz war, doch etwas anderes war auch durch beharrliche Sticheleien nicht aus ihm herauszubekommen.
    »Er trinkt heute nicht«, sagte Paolo und schenkte zwei Gläser ein.
    »Hat es dir deine Frau verboten, Angelo?« fragte Marcantoni.
    »Er ist bloß zu faul, pissen zu gehen«, sagte Ivan.
    Niemand lachte. Sie schwiegen, als die kleine Paty die Dose Sprite brachte. Gigino trippelte hinterher und sah zu, wie der alte Marcantoni sich sein Spezialgemisch braute. Langsam begann der Abend aufzuatmen. Die erste weiche Brise schwang sich über die Brüstung und ließ die Blätter der beiden Eschen leise murmeln. Die zwei Lucarelli-Mädchen tauchten auf und tippten mit den Fingern auf der Gelati-Tafel neben dem Eingang zur Bar herum. Marta wartete, bis sie sich, wie immer, für ein Crocchino entschieden hatten, und ging dann mit ihnen hinein. Der Fliegenvorhang schwang ein wenig nach.
    »Es würde sich gehören, daß er mal kurz vorbeischaut«, begann Franco Marcantoni endlich wieder.
    »Mal kurz vorbeischaut?« Ivan stützte die Ellenbogen auf den Tisch. »Am ersten Abend in Freiheit? Wenn ich fünfzehn Jahre lang bei Wasser und Brot gesessen hätte, würde ich da nicht in die Bar meines Vertrauens gehen, mich hier an den Tisch setzen und sagen: Wirt, ich bin frei, der Abend ist schön, und jetzt bring für mich und meine Freunde den besten Wein, den du im Keller hast, damit wir alle zusammen ...«
    »Du kennst doch Vannoni gar nicht«, sagte Paolo Garzone.
    »Na und?«
    »Und du hast gar keinen Weinkeller«, nuschelte Marcantoni.
    »Noch nicht. Doch wartet nur! Sobald etwas Geld in der Kasse ist, mache ich etwas aus dem Laden hier.« Ivan kippte den Inhalt seines Glases hinunter. »Aber einen erstklassigen Wein habe ich jetzt schon. Willst du nicht doch einen, Angelo?«
    »Er weiß doch genau, daß Giorgio Lucarelli kommt«, sagte Sgreccia.
    »Guten Morgen, Angelo, wir sind beim Wein«, sagte Ivan.
    »Wegen einem Glas stirbst du nicht gleich«, sagte Marcantoni, doch Sgreccia sprang nicht auf die Stichelei an. Auch sonst wollte niemand das übliche Geplänkel in die übliche zweite Runde führen. Natürlich wiederholten sich Gesprächsthemen, verfestigten sich Rollen, wenn man Jahrzehnte im gleichen Nest gelebt hatte und Abend für Abend beisammensaß. Jeder kannte jeden. Jeder wußte um die kleinen Schwächen seines Nachbarn und scheute sich nicht, darüber Witze zu reißen. Nur an diesem Abend hatte keiner Lust dazu, denn der Abend war nicht wie jeder andere. Matteo Vannoni war zurückgekommen. Man wußte nicht, was das bedeutete. Etwas lag in der Luft, und die gewohnten Rituale schmeckten ausnahmsweise fade.
    Es gab keine Geheimnisse, es gab aber sehr wohl Dinge, über die man nicht sprach. Der Mord Vannonis an seiner Frau hatte anfangs nicht dazu gehört. Er hatte das Dorf erschüttert, war über Monate hinweg Hauptgesprächsthema gewesen, Fraktionen pro und contra Vannoni hatten sich gebildet. Als der Prozeß abgeschlossen war, hatte man das Urteil noch heftig diskutiert, doch irgendwann hatte man genug. Hagelstürme kamen, Mißernten und Lotteriegewinne, Todesfälle, Geburten, Dorffeste. Das Leben ging weiter, doch Vannoni, der irgendwo weit weg in einer Zelle saß, gehörte nicht mehr dazu.
    Ab und zu, immer seltener, waren Elena und Angelo Sgreccia noch gefragt worden, wie es ihm denn gehe, doch eigentlich wollte es niemand wissen. Seine Existenz hatte für das Dorf in einer Bluttat geendet, die immer ferner rückte und immer unwirklicher wurde. Er selbst war ein Schatten geworden. Grau, fern. Und unangenehm. Wie ein Todkranker, der sich weigerte zu sterben. Also hatte man versucht, ihn zu vergessen. Also hatte man nicht über ihn
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