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Die Vipern von Montesecco

Die Vipern von Montesecco

Titel: Die Vipern von Montesecco
Autoren: Bernhard Jaumann
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brüllen hören. Ein Pferd, zwei Kühe und ein paar Schafe, die seit Tagen ohne Wasser und Futter im Stall eingesperrt waren. Furchterregend sei das Gebrüll gewesen, hatte sein Vater erzählt, und dann sei er hineingegangen und habe den alten Godi tot vor dem Waschbecken gefunden. Er habe die Tiere versorgt, das Pferd angespannt und Godis Leiche zum Pfarrer gefahren. Nein, es mußte schon mindestens fünfundzwanzig Jahre her sein. Giorgio war als Ministrant bei der Beerdigung dabeigewesen.
    Die noch aufrechten Mauern des Hauses waren mannshoch von Dornengestrüpp überwachsen. Godis Erben wohnten irgendwo im Norden und ließen alles verkommen. Nicht ein einziges Mal waren sie hiergewesen. Die Obstbäume hatten die Lucarellis frei gehalten und geschnitten, erst Carlo und seit ein paar Jahren Giorgio. Mandeln, Pfirsiche und der weit ausladende Maulbeerbaum, in dessen Schatten Giorgio Lucarelli seine Wasserflasche abgestellt hatte. Er setzte sich auf den alten Hackstock vor dem Stamm und lehnte sich zurück. Die Wasserflasche stand links an einem Bruchstein. Lucarelli griff danach, umfaßte den Hals der Flasche, spürte durch das Plastik, daß das Wasser trotz des Schattens zu warm geworden war, dachte noch, daß ein kühles Bier jetzt ... und hörte das Zischen.
    Ein leises, kurzes Zischen in nächster Nähe. Ein bedrohliches einsilbiges Zischen, das wie »Halt!« klang. Lucarellis Finger erstarrten um den Flaschenhals. Ohne den Kopf zu bewegen, ließ er den Blick nach schräg unten wandern. Der Kopf der Viper war keine zehn Zentimeter von seinem Handgelenk entfernt. Es war ein dreieckiger schwarzer Kopf, genauso bewegungslos wie der schwarze Rumpf. Nur die Schwanzspitze zuckte nervös.
    Lucarelli rührte sich nicht. Er konzentrierte sich darauf, leise und regelmäßig zu atmen. Wenn er nicht die Nervenverlor, würde nichts passieren. Vipern schlugen zu, wenn sie überrascht oder bedroht wurden. Wenn zum Beispiel eine Hand unvermittelt auf sie zufuhr. Den heikelsten Moment hatte Lucarelli schon überstanden. Jetzt hieß es nur zu warten, bis die Schlange sich sicher genug fühlte, um abzuhauen. Nur keine unbedachte Bewegung!
    Die Viper rührte sich nicht. Als wäre sie festgenagelt.
    Hau jetzt ab! dachte Lucarelli. Hau ab! Er spürte die Plastikflasche unterm Schweiß seiner Hand glitschig werden.
    Der Kopf der Viper schwenkte ein wenig zur Seite. So, als suche sie sich den besten Winkel, um ihre Giftzähne in Lucarellis Handgelenk schlagen zu können. Die Viper zischte dreimal. Kurz, verkniffen. Es klang wie ein höhnisches Auflachen. Dann stand der Kopf wieder still. Lucarelli sah jetzt ihre Augen. Sie blickten kalt.
    Lucarelli fühlte einen Schweißtropfen von seiner Stirn herabrinnen. An der Nasenwurzel blieb er stehen. Die Spur, die er hinterlassen hatte, schien sich in die Haut einzubrennen. Lucarelli spürte ein fast unwiderstehliches Bedürfnis, mit der Hand darüberzuwischen.
    Und wenn die Viper zubiß? Er würde notdürftig abbinden. In zwanzig Minuten wäre er oben im Dorf, dann eine Viertelstunde mit dem Wagen bis zu Terracinis Praxis in San Lorenzo, oder gleich ins Krankenhaus nach Pergola. Dort hatten sie das Gegengift auf jeden Fall. In einer guten halben Stunde wäre er versorgt. Am Abend würde er die Geschichte lachend in der Bar erzählen. Es war alles halb so schlimm.
    Die Viper rührte sich nicht.
    Giorgio Lucarelli rührte sich nicht.
    Was willst du eigentlich von mir? dachte er.
    Die Augen der Viper blickten starr. Die Viper war schwarz wie der Tod.
    Sag es mir! dachte Lucarelli. Los! Sprich mit mir, verdammtes Vieh! Sag mir, was du eigentlich von mir willst!
    Die Viper züngelte schnell. Ihr Maul schien sich dafür gar nicht zu öffnen, doch Lucarelli sah klar und deutlich die gespaltene Zunge. Wie sie herausschoß und wieder zurückfuhr. Als hätte sie eine Verwünschung ausgespuckt.
    Was? dachte Lucarelli. Was hast du gesagt?
    Die Viper bewegte keinen Muskel. Sie wartete. Sie hatte Lucarelli etwas gesagt, und nun wartete sie auf eine Antwort. Plötzlich war er sich sicher, daß er jetzt den Mund aufmachen mußte. Erst wenn er mit ihr sprach, würde sie sich davonmachen.
    Gut, dachte Lucarelli.
    Was willst du hören? dachte er. Er würde irgend etwas sagen. Sie würden keine Freunde werden, die Viper und er, aber das mußte ja auch nicht sein. Lucarelli konnte mit jedem ein paar Worte wechseln. Warum nicht auch mit einer Schlange?
    »Gut«, murmelte er, »ich werde jetzt meine Hand von der
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