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Die Vipern von Montesecco

Die Vipern von Montesecco

Titel: Die Vipern von Montesecco
Autoren: Bernhard Jaumann
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Ehering.
    Am Fuß der Treppe stand Carlo. Antoniettas Blick streifte ihn nur kurz, doch sie wußte, daß er begriffen hatte.
    »Was hast du gesagt?« fragte Carlo Lucarelli tonlos.
    »Kümmert euch um die Mädchen!« sagte Antonietta. Sie drückte sich an ihm vorbei. Draußen wischte Paolo mit einem Lappen an der staubigen Scheibe seines Lieferwagens herum. Das Abendrot färbte den Himmel blutig. Paolo warf den Lappen ins Wageninnere und lief um den Kühler zur anderen Seite. Antonietta zuckte nicht, als aus dem Haus ein langer, gellender Schrei drang, der in einem tiefen, fast tierischen Gurgeln erstarb. Sie erkannte die Stimme von Giorgios Mutter Assunta erst, als ein an- und abschwellender Klagegesang einsetzte.
    »Danke«, sagte Antonietta, als Paolo ihr die Beifahrertür aufhielt.
    »Antonietta«, sagte Paolo, »es ist vielleicht nicht der richtige Moment, aber ich muß dir einfach sagen, daß ich dich von ganzem Herzen bewundere. Wie du das alles wegsteckst!«
    »Fahr los!« sagte sie.

2
    Selig, wer nie im Leben vom Fluch gekostet!
    denn wo Gott ein Haus erschütterte, schwillt ihm
    unablässig durch alle Geschlechter Unheil.
    Sophokles: Antigone, Verse 583–585

Die Nachricht vom Tod Giorgio Lucarellis verbreitete sich wie ein Lauffeuer im Dorf. Jeder Tod war ein Unglück, doch es war ein Unterschied, ob ein Achtzigjähriger friedlich im Bett verschied oder ob ein Mann in den besten Jahren an einem Vipernbiß krepierte. Niemand konnte sich an einen ähnlichen Vorfall erinnern. Nur Costanza Marcantoni behauptete, daß es lange vor dem Krieg in San Vito einen Fünfundzwanzigjährigen auf die gleiche Weise erwischt habe. Und das sei nur der Anfang einer Serie von Unglücksfällen gewesen, die über das Dorf auf der gegenüberliegenden Hügelkette hereingebrochen wäre.
    »Ein schlechtes Omen«, murmelte Costanza Marcantoni kopfschüttelnd vor sich hin.
    Wenn ihr auch niemand Gehör schenken wollte, so gab es doch manch einen, der neben der Bestürzung über den Tod Lucarellis auch Unbehagen, ja einen Anflug von Schauder fühlte, weil der Vorfall in seiner Banalität so unbegreiflich schien. Sicher, die Vipern waren dieses Jahr besonders gefährlich, doch ein starker, gesunder Mann wie Giorgio Lucarelli starb nicht so schnell an einem Schlangenbiß.
    Immer wieder wurde nachgefragt, und immer wieder schilderte Paolo Garzone, wie er Lucarelli gefunden hatte, den Biß am Unterarm abgebunden, eine verkrustete Platzwunde am Kopf, der ganze Körper verkrampft, kein Atem, kein Puls, nichts, er sei schon kalt geworden. Am Waldrand habe er gelegen, kurz vor der kleinen Brücke, ein paar Schritte vom Feldweg entfernt, der zu dem verlassenen Gehöft führte, in dem früher Milena Angiolinis Großonkel gewohnt habe. Garzone sei nach der Arbeit dorthingefahren, um nachzusehen, ob die Pumpe aus dem Brunnenhäuschen noch funktioniere, und auf dem Rückweg habe er Giorgio Lucarelli am Waldrand liegen sehen. Er mache sich Vorwürfe, denn wenn er ihn schon auf dem Hinweg bemerkt hätte, wäre vielleicht noch Hilfe möglich gewesen. Er habe Giorgio auf den Beifahrersitz gehievt und ins Krankenhaus gefahren, obwohl er wußte, daß nichts mehr zu machen war. Der Arzt im Pronto Soccorso habe überhaupt keine Wiederbelebung versucht, sondern sofort die Behörden angerufen.
    Man nickte im Dorf, als ruchbar wurde, daß der Vater des Toten auf einer Obduktion bestand. Carlo Lucarelli hatte am Abend das ehemalige Pfarrhaus betreten und sich die Nacht über dort eingeschlossen. Am Morgen kam er mit versteinertem Gesicht heraus, setzte sich auf seine alte Ducati und fuhr in die Stadt. Alle wußten, daß er stur wie ein Maulesel sein konnte. Er würde erst zurückkommen, wenn ihm die Todesursache offiziell und zweifelsfrei bestätigt worden wäre. Oder eben widerlegt. Bis dahin mußte man abwarten.
    Die Männer des Dorfs erledigten, was unaufschiebbar war, doch ab elf Uhr saßen die meisten im Schatten der Esche vor der Bar. Was es zu sagen gab, wurde gesagt. Dann verebbte das Gespräch in einsamen, dumpfen Grübeleien. Als würde die Hitze Gedanken und Stimmbänder lähmen. Es waren die Frauen von Montesecco, die die Ärmel aufkrempelten. Sie erkannten, was zu tun war, teilten sich wie selbstverständlich die Aufgaben, ohne auch nur ein Wort darüber zu verlieren.
    Es schien fast, als hätten sie eine solche Katastrophe schon lange erwartet und sich gewissenhaft darauf vorbereitet. Vielleicht lag es auch am Erbe der Jahrhunderte, in denen
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