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Die Vipern von Montesecco

Die Vipern von Montesecco

Titel: Die Vipern von Montesecco
Autoren: Bernhard Jaumann
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Kalender von der Cassa di Risparmio aus dem Jahr 1978. Das Foto für den Monat Juli zeigte einen Sonnenuntergang in den Dolomiten. Catias Zimmer war bis auf den großen Schrank leer. Natürlich hatten sie die Sachen für das Kind mitgenommen. Alles war in Ordnung.
    Bevor er das Schlafzimmer betrat, zögerte er einen Moment. Dann machte er die Tür auf. Die Läden vor den beiden Fenstern waren geschlossen. Im Raum lag Halbdunkel, durch das helle Striche von den Ritzen der Läden her fielen. Vannoni schaltete das Licht ein. Auch damals hatte er das Licht eingeschaltet. Da war Giorgio Lucarelli schon halb durchs Fenster gewesen. Der behaarte Rücken und der nackte weiße Hintern waren das letzte gewesen, was er von ihm gesehen hatte. Der Schrank, in dem die Lupara auf den Beginn der Jagdsaison gewartet hatte, stand noch im Eck. Bis er das Gewehrgeladen hatte, war Lucarelli in der Nacht verschwunden gewesen.
    Vannoni öffnete das Fenster und die Läden. Seine Hand strich am Sims entlang. Er drehte sich um. Auf dem Doppelbett lag eine leichte Decke. Die Matratze darunter war nicht bezogen. Damals war das Leintuch auf der rechten Seite zerwühlt gewesen. Maria hatte sich nicht aus dem Bett weggerührt. Ganz auf ihrer Seite hatte sie sich aufgesetzt. Sie hatte den nackten Rücken an die Wand gedrückt und das Laken bis zum Kinn hochgezogen. Sie hatte ihn angesehen. Nie würde er diesen Blick vergessen. Er hatte nicht verstanden, was er ausdrückte. Es war weder Schreck noch Scham, nicht Mitleid, nicht Spott, nicht Trotz gewesen. Er hatte gesehen, was los war, aber er hatte nichts begriffen. Damals nicht, und bis heute nicht.
    »Warum?« fragte er leise.
    »Warum?« hatte er sie damals angezischt, und sie hatte ihn angesehen wie ein Wesen aus einer fremden Welt.
    Sie hätte nur antworten müssen.
    Irgend etwas.
    Irgendein Wort, das ihm die Möglichkeit gegeben hätte, aufzubrüllen, höhnisch loszulachen, sie niederzuschreien. Doch sie hatte nichts gesagt.
    Es war still.
    Es war damals still gewesen. Bis auf das Knacken, als er die alte Lupara gespannt hatte.
    »Warum?« hatte er noch einmal gefragt, und sie hatte die Lippen aufeinandergekniffen und ihn auf eine Weise angeblickt, die er sein Leben lang nicht verstehen würde. Da hatte er abgedrückt. Einmal, zweimal. Er hatte seine Frau nicht umgebracht, weil sie ihn mit Giorgio Lucarelli betrogen hatte. Er hatte dieses Fremde in ihren Augen auslöschen wollen. Für immer. Er mußte sichergehen. Nur deshalb hatte er nachgeladen. Zweimal. Das hatte seinen Verteidiger später im Prozeß auf Totschlag im Affekt plädieren lassen, während der Staatsanwalt nicht müde gewordenwar, ihm eine Disposition zu Radikalität und Gewalt nachzuweisen. Vannoni war zu einundzwanzig Jahren Haft verurteilt worden und hatte fünfzehn davon abgesessen.
    Sechs Kugeln in ihrem Körper, und Blut überall. Er hätte noch weitergemacht, wenn das Blut nicht gewesen wäre. Vannoni ging zu Marias Seite des Betts und schlug die Decke zurück. Auf der Matratze waren keine Blutflecken zu sehen. Er beugte sich nach unten und strich über die Oberfläche. Nicht die geringste Spur eines Blutflecks. Man müßte doch irgend etwas sehen. Zumindest spüren, wo stundenlang geschabt und gewaschen worden war. Sie hatten doch nicht etwa eine neue Matratze gekauft. Für das Bett einer Toten! Das war doch lächerlich! Er wußte nicht, wieso ihn der Gedanke rasend machte.
    Vannoni fühlte das Blut in seinen Schläfen pochen. Ihm war heiß. Er ging ins Bad und drehte den Hahn auf. Das Wasser spritzte in gurgelnden braunen Stößen heraus. Im Gefängnis hatte Vannoni sich tausendmal gesagt, daß die Vergangenheit Vergangenheit war. Er würde sie ruhen lassen. Er würde Blumen an Marias Grab bringen. Er würde Giorgio Lucarelli freundlich grüßen, wenn er ihn auf der Piazza traf. Er würde allem, was draußen auf ihn zukäme, offen, ruhig und gelassen begegnen.
    Vorsätze! Vannoni begriff nicht, wieso alles plötzlich zusammenstürzte. Nur weil er keine Blutflecken auf der Matratze fand, konnte doch nicht alles, was er in den letzten Jahren begriffen zu haben glaubte, zu einem Nichts zusammenschnurren. Er mußte nachdenken. Er fragte sich, was Giorgio Lucarelli gerade dachte. Er fragte sich, ob das, was Giorgio Lucarelli die letzten fünfzehn Jahre gedacht hatte, ebenfalls in Trümmer fallen könnte.
    Rot versank die Sonne hinter den Hügeln jenseits des Cesano-Tals. Am Horizont klebte Dunst, doch über den Feldern
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