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Die Vipern von Montesecco

Die Vipern von Montesecco

Titel: Die Vipern von Montesecco
Autoren: Bernhard Jaumann
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Vielleicht sah man doch schon etwas. Catia hatte ihn die letzten beiden Jahre nicht besucht. Er wußte nicht, ob seine Tochter vor vier Monaten schlanker gewesen war.
    »Und was?«
    Vannoni hatte Catia fünfzehn Jahre lang nicht besucht. Er hatte kein Recht, jetzt an die Decke zu gehen.
    »Und wie ist es dazu gekommen?« fragte er.
    »Du weißt nicht, woher die kleinen Kinder kommen?« fragte Catia. Sie sah den flimmernden Bildern zu. Ihr Gesicht war weich, die Augenbrauen dicht, die Nase vielleicht etwas zu groß. Auch sie hatte blondes Haar, doch sonst glich sie Maria nicht.
    »Wer ist der Vater?« fragte Vannoni.
    Catia starrte auf das Fernsehbild, durch das eine Bahre geschoben wurde. Der Körper darauf war von einer Planebedeckt. Als Vannoni das letzte Mal in Freiheit ferngesehen hatte, waren es fünf gewesen. Fünf Körper, fünf Bahren, fünf Planen.
    »Wer? Wer ist der Vater?« fragte Vannoni.
    Ein Politikergesicht in Großaufnahme sagte, daß das Attentat ein Anschlag auf den demokratischen Rechtsstaat gewesen sei.
    »Dann ist er jetzt tot«, sagte Catia.
    »Wer?«
    »Der demokratische Rechtsstaat.«
    Gut fünfzig Meter hangabwärts stand eine Gruppe von Ölbäumen. Es waren knorrige Stämme, aus denen ein paar Zweige mickrigen Grüns sprossen. Giorgio Lucarelli stapfte über die Gerstenstoppeln auf die Gruppe zu. Schon um elf Uhr vormittags glühte der Boden unter seinen Arbeitsschuhen. Die Luft flimmerte, und die Häuser von San Pietro schienen wie eine Fata Morgana über dem Hügelkamm im Süden zu schweben.
    Im »Corriere Adriatico« hatten sie einen neuen Hitzerekord vorhergesagt. Und kein Tropfen Regen in Aussicht. Immerhin war die Gerste eingefahren. Der Weizen brauchte nur noch ein paar Tage, der würde es schaffen. Dann würde man weitersehen. Irgendwie ging es immer. Das dauernde Gejammere der anderen hatte Lucarelli noch nie ertragen können. Regnete es ein paar Tage nicht, sahen sie die Ernte vertrocknet, regnete es dagegen, sahen sie die Äcker davonschwimmen.
    Lucarelli erreichte den ersten Olivenstamm. Der neu gepfropfte Trieb war gut angegangen. Drei Jahre würde es dauern, bis der Baum wieder trug, dann aber große, fleischige Eßoliven statt der kleinen, die fast nur aus Kern bestanden. Lucarelli klappte das Messer auf und begann die Austriebe unten am Stamm zu entfernen.
    Auch bei der Sache mit Vannoni übertrieben die Leute. Sie hatten am Abend zuvor das Thema vermieden, solangeer dabei war, aber Lucarelli hatte genau gespürt, daß sie felsenfest von einer bevorstehenden Katastrophe überzeugt waren. Als ob einer den anderen umbringen müßte, um selbst weiterleben zu können. Stellten sie sich ein Duell auf der Piazza vor wie in einem amerikanischen Western? Wie er, Giorgio Lucarelli, bewegungslos vor dem Palazzo Civico wartet. Aus der Gasse, die von der Kirche herabführt, hört man schwere Schritte. Matteo Vannoni tritt aus dem Schatten auf der anderen Seite der Piazza heraus und bleibt in zwanzig Schritt Entfernung stehen. Die Mienen beider sind regungslos. Ein Kind wird von der Mutter in einen Hauseingang gezerrt, die Fensterläden schlagen zu ...
    Es war lachhaft. Lucarelli ging zum nächsten Baum und prüfte mit ruhiger Hand den Trieb. Vannoni und er würden nicht die besten Freunde werden, aber das mußte ja auch nicht sein. Sie würden sich aus dem Weg gehen, doch wenn sie sich begegneten, würden sie auch ein paar belanglose Worte wechseln können. Vannoni hatte Zeit genug gehabt nachzudenken. Damals war er einfach durchgedreht, das konnte Lucarelli nachvollziehen. Vielleicht wäre es ihm genauso gegangen, wenn er einen anderen mit Antonietta im Bett erwischt hätte. Aber nach fünfzehn Jahren aus dem Knast zu kommen, nur um einen zweiten Mord zu begehen und wieder – und diesmal wirklich für immer – einzufahren, so dumm konnte Vannoni nicht sein.
    Alle Triebe hatten prächtig angeschlagen. Lucarelli würde die Bäume wässern, wenn die Trockenheit anhielt. Egal, ob es die Gemeinde verboten hatte. Er steckte das Messer ein. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn und machte sich auf den Rückweg. Hangaufwärts.
    Er hielt auf das verfallene Rustico zu, in dem der alte Godi gewohnt hatte. Der mußte auch schon zwanzig Jahre tot sein. Er war im Winter gestorben, allein, hatte nie mit irgend jemandem etwas zu tun haben wollen. Die Leiche war ein paar Tage herumgelegen und wäre vielleicht nochviel länger unentdeckt geblieben, wenn nicht Giorgios Vater Carlo die Tiere hätte
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