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Die verschwundene Frau

Die verschwundene Frau

Titel: Die verschwundene Frau
Autoren: Sara Paretsky
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Verletzungen zu erholen, falls die Anwesenden das schon vergessen hätten. Die Journalisten wirkten angemessen zerknirscht und packten ihre Kassettenrecorder und anderen Sachen zusammen. Morrell gab allen eine Kopie der Videokassette und der Dias. Die beiden Männer, die Vater Lou begleitet hatten, erhoben sich brummend und machten sich daran, die Reporter aus dem Gebäude zu eskortieren.
    »Und was machen wir jetzt?« fragte Sal, als alle draußen waren.
    »Tja...« Ich zuckte mit den Achseln. »Jetzt werde ich wohl versuchen, meine berufliche Reputation wieder zusammenzuflicken. Ich hoffe nur, dass genug Leute meine Version der Geschichte glauben und sich die Verhältnisse in Coolis ändern, auch wenn vielleicht nie jemand für den Mord an Nicola Aguinaldo verantwortlich gemacht wird.«
    »Und was wird Robbie tun?« fragte Sal.
    Ich grinste. »Eleanor ist am Mittwoch nachmittag gekommen, um ihn abzuholen. Der Kleine ist in die Kirche gelaufen und hat gebrüllt, dass er dort Zuflucht sucht, dass er sich an den Altar kettet und einen Hungerstreik anfängt. Eigentlich hätte sie das freuen sollen, aber es hat sie nur noch wütender gemacht. Schließlich hat sie sich mit Vater Lou geeinigt, dass Robbie hier wohnen und die Schule von St. Remigio besuchen kann. Vater Lou hat gesagt, dass er gegen eine Einzahlung in die Stipendienkasse der Schule sowie eine Entschädigung für den kaputten Altar bereit sei, die Anzeige gegen Baladine wegen Hausfriedensbruchs zurückzuziehen.«
    Vater Lou dabei zuzusehen, wie er Eleanor Baladine ganz abgebrüht eine Fünfzigtausend-Dollar-Spende entlockte, war einer der wenigen vergnüglichen Momente der letzten Monate für mich gewesen. Sie war zusammen mit ihrem Anwalt bei ihm aufgetaucht, überzeugt davon, dass es ihr gelingen würde, den Priester mit der Androhung weiterer Anzeigen unter Druck zu setzen. Doch am Ende hatte sie ohne ihren Sohn gehen müssen und es Vater Lou sogar noch schriftlich gegeben, dass sie Robbie in der neuen Schule finanziell unterstützen würde. Am allerschlimmsten für sie dürfte jedoch gewesen sein, als Vater Lou ihr erklärte, das Boxen werde Robbie zu einem richtigen Mann machen, und er, Vater Lou, werde sich persönlich um das Training ihres Sohnes kümmern.
    »Das Komische ist, dass Robbie das Boxen tatsächlich lernen möchte«, sagte ich zu Sal. »Der Junge, der es nicht geschafft hat, Tennis zu spielen oder zu schwimmen, um seinen Eltern einen Gefallen zu tun, macht jetzt jeden Morgen nach der Messe Sprinttraining.«
    Ich selbst war natürlich wieder in meine Wohnung zurückgekehrt, aber aus Gründen, die mir selbst nicht so klar waren, stand ich nun jeden Tag früh auf und fuhr zur Sechs-Uhr-Messe in die Kirche St. Remigio, wo Robbie oder einer der anderen Boxer aus der Gemeinde ministrierte. Vater Lou erklärte mir mürrisch wie immer, ich könne weiter die Lesung halten, solange ich regelmäßig komme. Wahrend ich mich in jener Woche durch das Buch Hiob arbeitete, musste ich immer wieder an die Frauen in Coolis denken. Hatte Gott - immer vorausgesetzt, es gab überhaupt einen Gott - diese Frauen an Satan ausgeliefert? Und würde er sie irgendwann von ihm erlösen?

Narben
    Meine Rechtfertigung durch die Chicagoer Presse führte zu einem kleinen Wunder. Kunden, die zu Carnifice abgewandert waren, riefen mich nun an und erklärten mir, sie hätten nie an meinen Fähigkeiten gezweifelt. Sobald ich wieder voll einsatzbereit wäre, würden sie mir Aufträge geben. Alte Freunde von der Chicagoer Polizei meldeten sich ebenfalls bei mir, um mich zu fragen, warum ich ihnen nichts von der Sache mit Douglas Lemour erzählt hatte; sie hätten das Problem doch für mich erledigt. Ich erwähnte lieber nichts von all den anderen Malen, die sie mir gesagt hatten, ich solle mich um meine eigenen Angelegenheiten kümmern und ihnen die Polizeiarbeit überlassen. Eines Morgens tauchte Mary Louise Neely reumütig bei mir auf.
    »Vic, ich könnte es dir nicht verdenken, wenn du mir nie wieder vertrauen würdest, aber sie haben mich damals angerufen und mich und die Kinder bedroht. Der Mann am Telefon wusste Emilys genaue Adresse in Frankreich und konnte mir sogar sagen, was sie am Abend zuvor gegessen hatte. Ich hatte schreckliche Angst und fühlte mich in die Enge getrieben - ich konnte die Jungs nicht zu ihrem Vater zurückschicken, und was ich sonst hätte tun können, wusste ich nicht. Ich dachte, wenn ich dir das erzähle, machst du wieder was Unüberlegtes und
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