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Die Verschwoerung von Toledo

Die Verschwoerung von Toledo

Titel: Die Verschwoerung von Toledo
Autoren: Philipp Espen
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offensichtlich ungünstigen, göttlichen Ratschluss verloren gingen?
    Die Matrosen fragten sich, was sie in den nächsten Stunden erwartete. Das Mittelmeer zwischen Menorca und der spanischen Ostküste war eine bekannte Zone, aber wenn die Prophezeiungen für dieses Jahr eintraten, von denen jeder munkelte, dann kehrte sich alles um. Dann versank die Welt in Dunkelheit, dann behielten die Unkenrufer zu Hause Recht. Und würde ihnen dann das Unvorstellbare hier im Süden der Weltenscheibe begegnen? Ein Antimond, schwarze Sterne, ein kopfstehender großer Wagen, das gehörnte Tierkreiszeichen des Stieres im Juni mit dem Schwanz eines Juli-Krebses? Furcht erregende Ausgeburten? Naturgewalten, die alles zermahlten, Wellen, die bis zum Himmel reichten und darüber hinaus? Strudel oder einfach nur Löcher im Wasser bis hinunter zum Grund?
    Manche Seeleute an Bord hatten allerdings auch ohne den vorhergesagten Weltuntergang schon Wellen gesehen, die sich dreißig Meter hoch aufbauten, und sie erzählten Henri de Roslin jetzt mit bebenden Lippen davon. Wellen mit einem blendend weißen Kamm und leuchtenden Wasserfällen an der Frontseite; ein Plankenschiff, gleich, welcher Größe, das damit zusammenprallte, existierte zehn Herzschläge später nicht mehr. Die Männer hatten schon Stürme erlebt, die mit einem Stöhnen, als seien sie über sich selbst entsetzt, ganze Flotten in Stücke schlugen.
    Auf Befehl des Kapitäns hatte die Besatzung schon am Vortag, als der Sturm sich ankündigte, alles von Deck geschafft, was nicht festgezurrt war. Die Taue um die Ladung im Unterdeck, dickleibige Fässer, Kästen, Jutesäcke und Lederbeutel, waren verstärkt worden, die Zurrringe in der Takelage angezogen. Jeder Matrose hatte freiwillig auf alles Überflüssige verzichtet und es über Bord geworfen. Die Karavelle musste leichter werden und tänzerischer mit den Fluten umgehen können. Im Proviantraum blieb nur das Nötigste. Halbleere Fässer mit Nahrung und Trinkwasser wurden umgefüllt, um neue Gefahren bei sich verändernden Gewichtsschwerpunkten zu vermeiden, geleerte Fässer gingen über Bord.
    Henri de Roslin hatte eine solche Seereise noch nicht erlebt. Der Sturm bei der Überfahrt vor Wochen vom französischen Le Grail du Roi auf die Balearen war mit seemännischem Können beherrschbar gewesen. Und selbst die davor überwundenen Gefahren eines in Aufruhr befindlichen Frankreichs schienen ihm in der Erinnerung geringer gewesen zu sein. Jetzt zitterten selbst die Matrosen vor Angst. Sie arbeiteten mit wie gelähmt scheinenden Händen.
    Wenn Henri de Roslin sich nicht daran erinnert hätte, warum er diese Fahrt über die tobende See auf sich nahm, wäre er genauso mutlos geworden. Aber er dachte an seine Gefährten, die buchstäblich die Steine des Kerkerturms von Fontainebleau erweicht hatten. Voller Liebe dachte er an Uthman ibn Umar, den sarazenischen Korangelehrten, der bereits vor Wochen nach Cordoba zurückgekehrt war. An Joshua ben Shimon, den jüdischen Mystiker, der ihn hoffentlich in Toledo erwartete. Und an die anderen, die ihn während der letzten schlimmen Monate begleitet hatten, seinen Knappen Sean of Ardchatten, der an Joshuas Seite geblieben war, die Tempelbrüder Gottfried von Wettin und Jacques de Charleroi.
    Sie alle hatten ihn gedrängt, nach Toledo zu reisen. Dort, in der größten Stadt der iberischen Christenheit, würde er in die Geheimnisse der Kabbala eingeweiht werden, der neuesten, tiefsten und geheimnisvollsten jüdischen Kunst der Auslegung der Bibel. Denn Joshua ben Shimon behauptete, das Wort sei die Waffe, die Henri jetzt gegen seine Feinde brauche, die überall lauerten. Er war fest davon überzeugt, den Worten wohne eine verborgene, zwingende Schöpferkraft inne.
    Joshua hatte beschwörend gesagt: »Uns genügt es, den Namen zu kennen, um damit Macht über seinen Besitzer zu bekommen. Es muss aber der wahre Name sein. Denn hinter jedem Wesen oder Ding steht eine Idee, die es formt – nomen est omen. Lerne diese Macht zu erkennen und für dich zu nutzen! Schmiede eine Waffe gegen deine Feinde daraus! Dann wirst du überleben!«
    Henri wurde in seinen Gedanken unterbrochen und konnte sich nur mühsam auf den Beinen halten. Das Schiff wurde hin und her geschleudert. Er blickte in die bleichen, erschreckten Gesichter der Seeleute. Wenn die armen Seelen daran dächten, was ihnen in diesem Sturm wirklich passieren könnte, dachte Henri, würden sie vielleicht gleich über Bord springen.
    Und als
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