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Die Verratenen

Die Verratenen

Titel: Die Verratenen
Autoren: Ursula Poznanski
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schlechten Nachricht liegen. Niemand geht unvorbereitet auf eine Trauerfeier, denn theoretisch kann jeder dazu aufgefordert werden, das Wort zu ergreifen.
    Meine Wohneinheit liegt in der zweiten Etage, ich schließe die Tür hinter mir, ziehe die Schuhe aus und lasse mich auf das Sofa fallen.
    Seit ich unter die ersten zehn gereiht bin, verfüge ich über zwei Zimmer, ganz für mich allein. Es gibt Tageslicht und sogar ein Fenster, durch das man nach draußen sehen kann. Richtig hinaus, nicht nur in den Himmel oder auf einen der Höfe zwischen den Kuppeln. Hier in der Sphäre Hoffnung sind solche Räume selten – meistens hat man das Gefühl, man befände sich in den verschlungenen, blasenförmigen Organen eines transparenten Tieres. Aber in meinem Quartier ist es anders. Von meinem Sofa aus kann ich die schwarzen Umrisse der Sentinel beim Patrouillieren beobachten, sie heben sich gegen den Schnee ab wie aus Dunkelheit geformte Schatten. Hinter der Mauer, die die Sphäre umgibt, weit, weit entfernt, liegt ein Hügel, der sanft ansteigt und wieder absinkt. Wenn ich nicht schlafen kann, sitze ich oft am Fenster, ziehe mit Blicken seine geschwungene Form nach und suche am nächtlichen Himmel nach dem Mond. Perfekte Schönheit, nicht von Menschenhand gemacht, anders als alles, was mich sonst umgibt.
    Bis zur Trauerfeier habe ich noch vierzig Minuten, informiert mich die Nachrichtentafel an der Wand. Ich schäle mich aus meinen Sachen und dusche mir den Tag von der Haut, bevor ich in die Robe für offizielle Anlässe steige. Rot wie Feuer und grau wie Asche. Die Farben des Sphärenbundes.
    Aus dem Spiegel sieht mir mein blasses Gesicht entgegen, das Haar ist noch feucht und klebt mir an Kopf und Schultern. Kastanienbraun, so hat Lu die Farbe immer genannt. Einer dieser altmodischen Begriffe, die sie so liebte, weil sie geheimnisvoll klingen. Wie Kastanien ausgesehen haben, wusste sie aber auch nur von alten Abbildungen.
    Ich schließe die Augen und stelle mir vor, mein Haar wäre nass vom Regen. Ob ein Regenguss sich wie eine Dusche anfühlt? Ich habe Beschreibungen gelesen, die alten Romane sind voll von Regen, doch selbst erlebt habe ich ihn erst zwei- oder dreimal. Er war laut, knallte auf die Oberfläche der Kuppeln und verschleierte sie mit Wasser. Ganz anders als der stumme, sanfte Schnee, der fast täglich fällt.
    Keine Zeit für Träumereien. Ich binde das Haar zu einem Knoten, während ich fast automatisch vor dem Spiegel meine Übungen mache. Undurchdringliche Miene, dann ein wenig Mitgefühl hineinlegen. Missbilligung. Verständnis. Versteckte Ablehnung. Offene Ablehnung. Vertrauen. Wertschätzung.
    Duldsamkeit fällt mir schwer, wie immer, und ich breche mitten in der Übung ab. Fixiere meinen Blick im Spiegel und frage mich, ob sich die Akademieleitung überlegt hat, auch an meinem Gesicht etwas zu ändern. Bisher habe ich keinen Bescheid erhalten und ich weiß nicht, ob das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen ist. Vermutlich wissen sie noch nicht, wo ich eingesetzt werde – vor oder hinter den Kulissen. Oder sie wollen nicht riskieren, dass ich mit einem veränderten Gesicht alle Regungen neu einstudieren muss.
    Meine Stirn könnte höher, mein Kinn spitzer, meine Nase schmäler sein. Die Augenfarbe ist gut, sagt Grauko oft, Hellbraun wirkt vertrauenerweckend. Ich nicke mir zu und lege Vertrauenswürdigkeit in meine Züge.
    Wenn du so aussiehst, würde ich dir meine tiefsten Geheimnisse verraten ,hat Lu letztens zu mir gesagt. Der Gedanke an sie drückt mich mit einem Mal fast zu Boden. Lu, die zu allen freundlich war und von denjenigen ermordet wurde, denen sie helfen wollte. Ich drehe mich vom Spiegel weg, lege meine Hände übers Gesicht und tue, was ich schon die ganze Zeit tun möchte: weinen, bis keine Tränen mehr kommen.
     
    Ich bin eine der Letzten, die in der Festhalle eintreffen. Es ist ruhig, Gespräche werden nur im Flüsterton geführt, als wolle man die, die in den Särgen auf dem Podium liegen, nicht stören. Drei metallene Kisten, eine davon leer. Ich frage mich, welche es ist. Ihr Anblick macht mich schwindelig, besonders die Tatsache, dass sie geschlossen sind.
    Üblicherweise dürfen die Trauernden einen letzten Blick auf die Gesichter der Toten werfen, bevor sie verbrannt werden. Will man diesmal darüber hinwegtäuschen, dass nur in zwei Särgen Körper liegen? Oder sind die Gründe andere?
    Ich suche nach Aureljo und entdecke ihn ganz vorne. Er starrt den Boden an und sieht erst
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