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Die Verratenen

Die Verratenen

Titel: Die Verratenen
Autoren: Ursula Poznanski
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auf, als ich dicht neben ihm stehen bleibe.
    »Setz dich zu mir«, flüstert er und nimmt meine Hand.
    »Warum sind die Särge geschlossen?« Die Frage lässt mich nicht los.
    Aureljo schüttelt den Kopf. »Ich weiß es nicht.« Doch auch er vermutet etwas, möchte es mir aber nicht mitteilen, lächelt meine Hand in seiner an, weil er mir nicht in die Augen sehen will.
    Das, was niemand ausspricht, wird plötzlich zu Bildern in meinem Kopf. Eingeschlagene Gesichter. Zerbrochene Schädeldecken. Entstellungen, Verstümmelungen. Will man uns schonen? Damit die Angst vor Außenmissionen nicht übermächtig wird?
    Ich schmiege mich an Aureljo und vergrabe mein Gesicht an seiner Brust. Der Hass gegen die Prims ist mit einem Mal wieder da, er schnürt mir die Luft ab. Was Grauko nie deutlich sagt, was ich aber oft aus seinen Worten heraushöre, scheint mir plötzlich unmöglich: dass es meine Aufgabe werden könnte, zwischen den Menschen innerhalb und außerhalb der Sphären zu vermitteln.
    Um uns herum verstummt das Geflüster, Aureljos Rücken strafft sich und auch ich richte mich auf. Gorgias, der Rektor unserer Akademie, ist zwischen zwei der Särge getreten und streicht sich über seinen haarlosen Kopf, bevor er zu sprechen beginnt. Ich höre nur die Hälfte von dem, was er sagt, ich kann meinen Blick nicht von dem Sarg losreißen, in dem sich – so habe ich es für mich beschlossen – Lu befindet. Aufmerksam werde ich erst, als Gorgias den Tod der drei Studenten als Unglücksfall bezeichnet und nicht als barbarischen Mord, wie es richtig wäre. Am liebsten möchte ich aufstehen und aus dem Saal rennen.
    »Wir trauern um Raman, benannt nach dem indischen Nobelpreisträger, in dessen Fußstapfen er hätte treten können. Wir trauern um Luria, benannt nach dem bahnbrechenden Mikrobiologen, in dessen Sinn sie geforscht hat. Und wir trauern um Curvelli. Seine Begabungen waren vielfältig, er hätte sie als Forscher ebenso wie als Staatsmann einsetzen können. Indem sein Benenner die Namen Curie und Machiavelli miteinander verschmolz, wurde beiden Möglichkeiten Rechnung getragen. Nun sind diese Möglichkeiten einer bitteren Realität gewichen. Doch unsere Ziele bleiben die gleichen. Wir werden nicht von Rachegedanken geleitet, sondern von Vernunft.«
    Aureljo drückt meine Hand, Gorgias spricht ihm aus der Seele. Ich lasse ihn nicht aus den Augen, unseren Rektor, warte auf den einen Lidschlag zu viel, den einen falschen Ton, der verrät, dass er nicht meint, was er sagt. Aber entweder ist er hervorragend trainiert oder einfach ehrlich.
    Nach ihm hält der stellvertretende Vorstand unserer Sphäre seine Ansprache und meine Aufmerksamkeit lässt erneut nach. Er ist ein kleiner Mann mit einer leisen Stimme, dessen Stärken in der Klimaforschung liegen, nicht darin, seine Zuhörer zu fesseln.
    An der Wand hinter den drei Särgen stehen fünf Sentinel aufgereiht, den Blick starr geradeaus gerichtet. Unwillkürlich suche ich nach dem Sentinel von heute Nachmittag, dem, der Tudor so beunruhigt hat. Doch er ist nirgendwo zu sehen.
    Wir bleiben, bis die Särge in die Feuerhalle gebracht werden. Niemand hat erwähnt, dass einer davon leer ist, kein Wort wurde über den Verbleib von Curvellis Leiche verloren.
    Curie und Machiavelli. Ein Physiker und ein machtbesessener Politiker. Ich frage mich, ob diese Kombination Curvelli gerecht geworden ist, und gleichzeitig, wie schon unzählige Male zuvor, welche Aufgabe mein eigener Name mir auferlegen wird.
    Aus Eleonore von Aquitanien und Ariadne, Tochter des kretischen Königs Minos, haben meine Namensgeber Eleria gemacht. Eleonore war eine der mächtigsten Frauen des Mittelalters; Ariadne diejenige, die die Idee mit dem roten Faden hatte, der einem den Weg zurück durchs Labyrinth zeigt. Soll ich später einmal an der Spitze einer Sphäre stehen? Oder im Hintergrund bleiben und die Fäden in der Hand halten?
    Auf dem Weg zurück zu unseren Quartieren lasse ich Aureljos Hand nicht los. Für ihn ist es einfach, sein Name ist eindeutig. Ein Anführer, weise und gütig wie der römische Kaiser Marc Aurel. Die Nummer 1 in der Reihung, wahrscheinlich wird das sein ganzes Leben lang so bleiben.
    Kurz bevor wir die Sentinel vor dem Quartiereingang erreichen, bleibt er stehen. Neue Schneeflocken haben ihren stummen Tanz über den Kuppeln begonnen.
    »Wollen wir noch spazieren gehen?« Aureljo deutet in Richtung des Atriums, der kleinen, dreieckigen Fläche, wo die Kuppeln 6a, 6b und 6c
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