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Die Verratenen

Die Verratenen

Titel: Die Verratenen
Autoren: Ursula Poznanski
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Stein den Schädel einzuschlagen, jedem Einzelnen. So, wie sie es wahrscheinlich bei Lu getan haben.
    »Stell dir vor, du wärst in Sphäre Neu-Berlin 3. Dort ist es mit den Attacken wirklich schlimm, kein Vergleich zu hier, es gibt regelmäßig Tote auf beiden Seiten. Du sollst den Bewohnern klarmachen, dass Gewalt als Antwort nicht infrage kommt. Du vertrittst die Position des Sphärenbundes.«
    Die Trauer um Lu nistet sich in meinem Körper ein, sie gräbt Höhlen in meinen Magen und in meine Brust. Ich bin sicher, sie zeichnet ihre Spuren auch in mein Gesicht, obwohl dort nicht mehr zu sehen sein darf als verständnisvolle Bekümmertheit. Würde.
    Ich denke an eine weiße Wand. Atme durch.
    »Wir sind privilegiert«, beginne ich. Meine Schultern sind gerade, meine Stimme fest. Ich erlaube einem kaum merkbaren Lächeln, sich auf meine Lippen zu stehlen. Jetzt müsste ich zuversichtlich wirken. »Unsere Ernten waren gut in diesem Jahr und es ist uns gelungen, zwei neue Sphären zu errichten und zu besiedeln. Wir sind gegen Sturm, Kälte und Tiere geschützt, wir verfügen über Medikamente, moderne Technik und sauberes Wasser. Mit jedem Tag, der vergeht, macht die Wissenschaft unser Leben leichter.« Ich lasse meinen Blick von links nach rechts schweifen, als wäre der Raum voller Menschen. »Ich weiß, dass die meisten von uns der Ansicht sind, all das verdient zu haben. Damit habt ihr recht, zumindest zum Teil. Unsere Vorfahren haben die Sphären aufgebaut. Sie haben an das geglaubt, was Melchart vorhergesagt hat, und auf diese Weise sich selbst und uns gerettet. Sie haben das Wissen der damaligen Zeit bewahrt und weiterentwickelt, um der Zivilisation eine Chance zu geben. Wir sind privilegiert, aber es muss uns auch klar sein, wie viel Glück wir hatten.«
    »Dafür schuften wir aber auch Tag und Nacht!«, fällt Grauko mir ins Wort und imitiert dabei die Sprachfärbung der Sphäre Neu-Berlin 3.
    »Ja, wir arbeiten hart«, stimme ich ihm zu. »Du, ich, jeder Einzelne von uns. Die Erde hat den Ausbruch noch nicht verkraftet und es wird viel Zeit vergehen, bis es so weit ist. Aber sieh dich an. Sieh an dir hinunter. Findest du Frostbeulen? Hungerödeme? Hat ein Wolf dir ein Bein abgerissen? Nein. Doch für die Menschen außerhalb der Sphären ist das Normalität und an ihrer Stelle würdest du auch alles tun, um dein Leben erträglicher zu machen.« Kein Vorwurf in der Stimme, das ist das Schwierigste dabei. Keine Selbstgerechtigkeit, sonst verliert man die Zustimmung. Ich habe den richtigen Ton gefunden, wie mir Graukos leichtes Nicken bestätigt.
    »Wir arbeiten so hart«, fahre ich fort, »damit wir die, die ohne die Sphären überlebt haben, irgendwann bei uns aufnehmen können. Im Moment wäre das verhängnisvoll für uns alle – zu wenige Lebensmittel, zu wenig Platz. Aber wir nähern uns diesem Ziel jeden Tag ein Stück weiter an. Dass die Clans nicht warten wollen, ist verständlich. Mir ginge es an ihrer Stelle ebenso.«
    »Nicht warten wollen und uns töten sind aber zwei verschiedene Dinge«, brummt Grauko, nach wie vor in der Rolle eines Neu-Berliners.
    Wieder habe ich Lu vor Augen. Sie war so sehr auf der Seite der Clans, ihr Verständnis und ihre Nachsicht für die Raubzüge und Überfälle waren echt. Als ich weiterspreche, habe ich das Gefühl, dass es ihre Worte sind, die über meine Lippen gleiten.
    »Sie wissen es nicht besser. Wir in den Sphären haben uns die Art der Zivilisation bewahrt, wie man sie vor dem Ausbruch kannte. Die Menschen außerhalb haben neben allem anderen auch das verloren. Ihr nennt sie Prims, aber sie sind nicht primitiv, sondern der Welt in ihrer ganzen Härte ausgeliefert. Das müssen wir uns immer wieder bewusst machen, auch wenn es schwerfällt. Denn wir sind es, die sie auf Abstand halten. Nicht für alle Zeit, aber doch so lange, bis wir einen Weg gefunden haben, sie zu uns zu holen, ohne dabei unterzugehen.« Eine kurze Pause, wieder ein Blick quer durch den Raum. Mitgefühl in die Stimme legen. »In der Zeit, die wir dafür brauchen, sterben draußen bei jedem Sturm, jeder Welle, jedem Beben Hunderte Menschen. Dafür geben die Clans uns die Schuld, und auch wenn das falsch ist, sollten wir dafür Verständnis aufbringen. Es ist nicht leicht, fair zu sein, wenn man verhungert oder erfriert. Wir haben es nicht mit Wilden zu tun, sondern mit Not leidenden Menschen, denen wir helfen müssen, so gut wir können. Wenn wir ihnen ihre Lage erträglicher machen, werden die
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