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Die Verratenen

Die Verratenen

Titel: Die Verratenen
Autoren: Ursula Poznanski
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Überfälle weniger werden. Das steht außer Frage.«
    Beinahe habe ich mich selbst überzeugt und Graukos Miene entnehme ich, dass er ebenfalls zufrieden ist.
    »Du kannst gehen«, sagt er. »Das war viel besser als dein erster Versuch. Nicht deine beste Rede, nicht gut genug für Punkte. Aber ausreichend für eine Ansprache vor Minenarbeitern.«
    Er hat recht. Ich nicke.
    »Was du bewiesen hast, ist, dass du deine Fähigkeiten auch in extremen Situationen einsetzen kannst. Das freut mich ganz persönlich.«
    Ein Lob aus Graukos Mund ist selten und kostbar, das Beste, was ich im Moment erwarten kann. Wenn man in der Reihung so weit vorn steht wie ich, gibt es Punkte nur noch für Übermenschliches.
    Er entlässt mich mit einer beiläufigen Handbewegung.
    Ich trete auf den Gang, beginne zu rennen. Jetzt kann, darf ich weinen, aber es kommen keine Tränen, nur ein Wimmern, das auch von meiner Atemlosigkeit herrühren kann.
    Ich laufe aus dem Akademieblock hinaus, an der Bibliothek, an den inneren Quartieren und am Medcenter vorbei.
    Lu ist tot, denke ich bei jedem Schritt. Lu. Ist. Tot. Lu. Ist. Tot.
    Die beiden anderen habe ich kaum gekannt. Raman hing immer nur mit den Physikern herum und Curvelli war lediglich einmal im gleichen Selbstanalyseseminar wie ich und fiel dort nur durch beharrliches Schweigen auf, jedes Mal wenn die Sprache auf seine Wünsche und Ziele kam. Er war wortkarg und sehr von sich überzeugt. Meistens zwischen 20 und 25 gereiht. Jemand, auf den die Mentoren ein Auge hatten, ein potenzieller künftiger Leiter des Physikalischen Forschungszentrums. Tot jetzt.
    Es heißt, in extremen Kälteperioden fressen die Prims auch Menschenfleisch.
    Laufen. Links, rechts, schneller. Ein Sonnenstrahl bricht sich über mir an der Hermetoplastkuppel und mischt sein Licht mit dem der Leuchten zu beiden Seiten des Verbindungsstegs. Es ist nicht mehr weit, nur noch quer durch Kuppel 9a, doch mein Salvator beginnt schon zu piepsen, als ich den ersten Schritt hinein mache. Puls 182, anaerober Bereich, zeigt das Display an.
    Ich bremse ab und merke erst jetzt, wie hektisch mein Atem geht. Eine Arbeiterin aus der Großwäscherei lächelt mir grüßend zu, während sie an mir vorbeieilt, die Arme voll beladen mit weißem, gestärktem Stoff. Kenne ich sie? Ich bin mir nicht sicher und das ist ein übles Zeichen.
    Den Rest des Weges gehe ich in normalem Tempo und lege mir meine Worte zurecht. Ich werde es den anderen sagen müssen, aber auch darin bin ich geübt. Schlechte Nachrichten zu überbringen war eine der ersten Lektionen, die ich von Grauko erhalten habe.

2
    Die Studenten sitzen um die Plexiglastische im Café Agora und unterhalten sich leise. Ich umrunde das Denkmal unseres Sphärengründers Melchart, genau in der Mitte der Zentralkuppel. Gleich daneben, nur geringfügig kleiner, ragt die Säule auf, die Richard Borwin gewidmet ist, dem Konstrukteur der Sphären. Nach ihm ist unsere Akademie benannt.
    Aureljo sitzt mit dem Rücken zu mir, sein Haar hat die Farbe von Löwenfell, und ich kann nicht anders, ich muss es jedes Mal berühren, wenn ich ihn sehe. Glatt und fest.
    Er dreht sich zu mir um und ich weiß, dass ich nichts mehr sagen muss. Man hat ihn informiert – ich hätte es mir denken können. Seit Monaten führt er die Reihung an; wenn einer von uns auf dem Laufenden gehalten wird, dann er.
    »Ria.« Er zieht mich auf seinen Schoß und ich schlinge meine Arme um seinen Hals. Als Aureljo scharf einatmet, lockere ich erschrocken meinen Griff.
    »Tut mir leid.« Er muss noch Schmerzen haben, wieso habe ich daran nicht gedacht? Weil ich mich so schnell an sein neues Gesicht gewöhnt habe, wahrscheinlich. Nein, nicht neu. Natürlich nicht.
    Wähle deine Worte sorgfältig ,höre ich Grauko in meinem Kopf.
    Sein verändertes Gesicht also. Die Blutergüsse sind kaum mehr zu erahnen und die Narben sowieso nicht. Die Chirurgen des Medcenters wissen genau, wie sie die Spuren ihrer Arbeit unsichtbar machen und dabei gleichzeitig die gewünschte Wirkung erzielen. In Aureljos Fall bedeutete das: die Nase eine Winzigkeit verkürzen, die Augenbrauen heben, ebenso wie die Mundwinkel, die Wangenknochen verstärken, das kleine runde Muttermal neben dem linken Auge entfernen.
    Vor dem Eingriff war es ein gutes Gesicht voller Freundlichkeit, jetzt ist es bezwingend. Man sieht Aureljo an und vertraut ihm, möchte ihm nahe sein, möchte ihm zuhören. So ist es gedacht. Noch bevor er ein Wort sagt, werden die Menschen ihm
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