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Die verratene Nacht

Die verratene Nacht

Titel: Die verratene Nacht
Autoren: Colleen Gleason , Joss Ware
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hatte jenes Grauen überlebt, nur um dann einem anderen anheim zu fallen. Aufgrund des Tumors, der sich in ihrem Bauch spannte, sah es so aus, als hätte sie ein extra Kissen unter dem Laken. Sie war in den gleichen sanften, grauen Dunst getaucht wie Maryanna und Jules. Obwohl ihre Todeswolke auch schon blaute, war sie bei Bewusstsein, die Augen offen, und sie beobachtete Selena quer durchs Zimmer.
    „Hast du Schmerzen?“, fragte Selena. „Soll ich dir ein Glas Wasser holen? Oder einen kleinen Zug?“
    Wo zum Teufel steckte Jen? Sie sollte schon längst zurück sein. Ich muss schauen, ob es irgendwelche Hoffnung für diesen Menschen hier gibt.
    Aber sie wusste bereits, dass es keine Hoffnung gab. Wenn der graue Nebel einmal da war, war das der Anfang des Unabwendbaren. Vielleicht hätte es vor fünfzig Jahren, vor dem Wechsel, als alles noch anders war, noch Hoffnung gegeben.
    „Nein“, erwiderte Clara. „Ich schaue ihn an. Seine Wolke ist so hübsch. Dieses Funkeln überall.“
    Selena lächelte bei der schlichten und auch treffenden Beobachtung der Achtjährigen. Es überraschte sie nicht, dass das Mädchen die Todeswolke sehen konnte. Nach unzähligen Jahren der Erfahrung mit derlei, überraschte sie gar nichts mehr, was Sterbende anbetraf. Sie waren die Einzigen, die wirklich verstanden.
    Und ja, in der Tat, der Neuankömmling war hübsch, so komplett bedeckt von schwach funkelndem, zartem Lila und silbrigem Grau. Aber was bedeutete das hier?
    Sie betrachtete ihn nun aufmerksam. Sam und seine Freunde hatten versucht sanft zu sein, aber sie waren es nicht gewohnt, das schwere Gewicht eines ausgewachsenen Mannes herumzutragen, ganz besonders nicht das von einem, der so kräftig gebaut und muskulös wie dieser hier war, und so hatte man ihn etwas ungeschickt abgelegt, halb auf der Seite.
    Sein Hemd war von Blut durchtränkt, vertrocknete Krusten davon an verschiedenen Stellen, aber an seiner Brust trat es nass aus. Es verfärbte bereits das Laken unter ihm, machte dort einen unförmigen Fleck. Ein Arm, komplett nackt wegen des ärmellosen Hemds sowie blutverschmiert und mit schmutzigen Streifen, wies ein lange Tätowierung von einem roten Drachen auf.
    Selena blickte kurz darauf, aber sie hatte keine Zeit es sich genau anzuschauen, denn wenn man irgendetwas für ihn tun konnte, würde sie nach Cath rufen lassen müssen, drüben in Yellow Mountain. Normalerweise, wenn sie zu Selena kamen, hatte Cath die Kranken bereits gesehen und alles getan, was sie konnte.
    Sein Atem veränderte sich, das Rasseln wurde tiefer, als würden die Lungen sich mit Flüssigkeit füllen. Diese Flüssigkeit war wahrscheinlich Blut und das verhieß nichts Gutes. Selena betrachtete sich sein Gesicht, das jetzt verzerrt schien, vor Schmerz und Erschöpfung. Er konnte nicht älter als dreißig sein.
    So ein junger Kerl.
    Und ein gutaussehender obendrein, mit kurz geschnittenem, schwarz glänzendem Haar, das scharf gezackt in alle Himmelsrichtungen abstand. Lange Koteletten rahmten ein Gesicht ein: mit hohen Wangenknochen und mit einem eindeutig asiatischen Einschlag im Ton seiner Haut und um die Augen. Volle Lippen, fast zu einem Schmollen zerquetscht, weil er auf der Seite lag. Schöne, gut geformte Muskeln an den Armen und auch unter dem nach oben verrutschten Hosenbein seiner Jeans.
    Wenn ich zwanzig Jahre jünger wäre... Und ach ja: wenn er nicht gerade sterben würde...
    Selena lächelte trocken zu sich selbst – denn schließlich ... wenn sie hier bei dieser Art von Leben nicht einen Sinn für Humor hätte, wäre sie noch verkorkster, als sie es ohnehin schon war – und wusch sich die Hände mit der nach Zitrone duftenden Seife und streckte die Hand nach derjenigen seiner Hüften, die zuoberst lag, und schickte sich an, ihn auf den Rücken zu drehen. Im letzten Moment beschloss sie ihm zuerst das Hemd auszuziehen. Zumindest konnte sie ihn säubern, die Wunde anschauen und ihm eine frische Tunika überstreifen.
    Etwas Frisches, in dem er dann sterben könnte.
    Sie runzelte die Stirn. Humor war ja schön und gut, aber in letzter Zeit waren ihre Gedanken immer öfter ins Unangenehme abgeschweift. Sie brauchte eine Veränderung. Oder zumindest einen Weg, um sich etwas Erleichterung und Erholung von der Traurigkeit ihrer Arbeit zu verschaffen.
    Als sie ihm das verdreckte, durchnässte Kleidungsstück abstreifte, sah sie, dass er ein weiteres Drachen-Tattoo hatte, das sich seinen muskulösen Rücken entlang wand. Dieser hier war blau
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