Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Vermissten - Casey, J: Vermissten - The Missing

Titel: Die Vermissten - Casey, J: Vermissten - The Missing
Autoren: Jane Casey
Vom Netzwerk:
zählen müssen, um meine Fassung zu wahren. Trotzdem schluckte ich hinunter, was ich eigentlich hatte sagen wollen, nämlich: Halt den Mund, du egoistisches Biest. Ich bin nur hier, weil ich mich unsinnigerweise dazu verpflichtet fühle und weil Dad nicht wollte, dass du allein bleibst – aus keinem anderen Grund. Denn jegliche Liebe zu dir, die ich vor langer Zeit noch empfunden habe, hast du längst verheizt, du undankbare, von Selbstmitleid zerfressene Kuh.
    Stattdessen sagte ich: » Ich dachte nicht, dass du etwas dagegen hast.«
    » Du dachtest? Du hast überhaupt nichts gedacht. Du denkst nie.«
    Ihre Miene wurde schlaff, als sie leicht schwankend in Richtung ihres Schlafzimmers an mir vorbeistakste. In der Tür hielt sie noch einmal inne. » Stör mich nicht, wenn du zurückkommst. Ich gehe zeitig schlafen.«
    Als ob ich Wert auf ihre Gesellschaft legte. Ich nickte verständnisvoll, doch als sie die Tür hinter sich zugeknallt hatte, veränderte sich mein Nicken zu einem langsamen, bitteren Kopfschütteln. Erlöst schloss ich mich in meinem Zimmer ein. Sie war eine echte Zumutung, teilte ich dem Foto meines Vaters auf dem Nachttisch mit. » Dafür bist du mir was schuldig«, murmelte ich. » Und zwar einiges.«
    Er lächelte ungerührt weiter, während ich mich ein paar Augenblicke später daranmachte, meine Laufschuhe unter dem Bett hervorzuangeln.
    Es war eine Erlösung, meine verschwitzten, zerknitterten Sachen auszuziehen, die kurzen Laufsachen überzustreifen, meine dichten Locken zurückzubinden und die kühle Luft im Nacken zu spüren. Ich überlegte kurz und zog dann doch noch eine leichte Jacke über, denn nach der Hitze des Tages war die abendliche Kühle bereits spürbar. Mit einer Wasserflasche und meinem Handy machte ich mich auf den Weg. Vor der Eingangstür atmete ich tief die frische Luft ein und lockerte meine erschöpften Beine. Es war erst kurz vor fünf, die Sonne schien noch immer und tauchte alles in ein goldgelbes, warmes Licht. Die Amseln sangen im Chor von Garten zu Garten, und ich lief in mäßigem Tempo los, die Straße hinunter. Ich spürte, wie sich meine Atemfrequenz erhöhte, ehe sie sich dem Takt meines Laufrhythmus anpasste. Ich wohnte in einer kleinen Sackgasse in Wilmington Estate, einer Wohnsiedlung, die in den Dreißigerjahren für stadtflüchtige Londoner gebaut wurde. Unsere Straße hieß Curzon Close und war eine verträumte Ansammlung von zwanzig Häusern, wobei der eine Teil der Bewohner dort schon seit Jahren wohnte, wie Mum und ich, der andere Teil vor den horrenden Immobilienpreisen in London hierhergeflohen war. Einer dieser neuen Bewohnerinnen, die gerade in ihrem Vorgarten stand, lächelte ich im Vorbeilaufen schüchtern zu. Keine Reaktion, was nichts Überraschendes war. Im Allgemeinen hatten wir nicht viel mit den Nachbarn zu tun, selbst mit jenen nicht, die schon so lange hier wohnten wie wir oder noch länger. Vielleicht mieden wir die Alteingesessenen sogar besonders. Diejenigen, die sich vielleicht noch erinnern konnten. Die noch Bescheid wussten.
    Als ich zur Hauptstraße kam, beschleunigte ich das Tempo, um meinen Gedanken davonzulaufen. Den ganzen Tag über hatte ich schon mit lange verdrängten Erinnerungen gekämpft, die ständig wieder hochkamen wie Gasblasen in einem modrigen Teich. Merkwürdig, ich hatte nicht die leiseste Vorahnung gehabt, als es fünf vor zwölf an der Tür meines Klassenzimmers klopfte. Ich war allein und bereitete mich gerade auf den Unterricht in meiner achten Klasse vor. Als ich die Tür öffnete, stand Elaine Pennington vor mir, die außerordentlich strenge und furchteinflößende Direktorin der Edgeworth-Mädchenschule. Hinter ihr stand ein großer und finster dreinblickender Mann. Ein Vater, und zwar der von Jenny Shepherd, wie ich bei näherem Hinsehen erkannte. Er sah verzweifelt und aufgelöst aus, und mir war auf der Stelle klar, dass etwas passiert sein musste.
    Ohne dass ich etwas dagegen tun konnte, lief die Szene wieder in meinem Kopf ab, so wie den ganzen Tag schon. Elaine war ohne Umschweife zur Sache gekommen.
    » Haben Sie in der nächsten Stunde Ihre achte Klasse?«
    Obwohl ich nun schon seit fast einem Jahr hier arbeitete, verunsicherte Elaine mich noch immer enorm. Ihre bloße Anwesenheit genügte, dass mir die Zunge vor lauter Furcht förmlich am Gaumen klebte. » Äh… ja«, brachte ich schließlich heraus. » Wen suchen Sie denn?«
    » Die ganze Klasse.« Es war Mr. Shepherd, der das gesagt hatte und
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher