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Die Vermissten - Casey, J: Vermissten - The Missing

Titel: Die Vermissten - Casey, J: Vermissten - The Missing
Autoren: Jane Casey
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Nachmittag saß ich fast fünfzig qualvolle Minuten im Auto.
    Im Haus war es still, als ich ankam. Zu still. Ich stand im kühlen, düsteren Flur und lauschte. Dabei spürte ich, wie sich durch den Temperaturunterschied die Härchen auf meinen Armen aufstellten. Mein Shirt war unter den Achseln und am Rücken verschwitzt, und ich fröstelte. Die Wohnzimmertür stand offen– genauso, wie ich sie am Morgen verlassen hatte.
    Das einzige Geräusch aus der Küche war das rhythmische Tropfen des Wasserhahns in die Müslischale, die ich nach dem Frühstück in der Spüle hatte stehen lassen. Ich hätte einiges darauf verwettet, dass niemand hier drinnen gewesen war, seit ich am Morgen aus dem Haus gegangen war. Was bedeutete…
    Missmutig begann ich nach oben zu steigen und hängte im Vorbeigehen meine Tasche an den Treppenpfosten. » Bin wieder da.«
    Als Antwort war ein schlurfendes Geräusch aus dem Zimmer am Ende des Flurs zu hören. Da die Tür geschlossen war, zögerte ich auf dem Treppenabsatz, ob ich anklopfen sollte oder nicht. Exakt in dem Augenblick, als ich beschlossen hatte mich zu trollen, bewegte sich die Türklinke. Bis in mein Zimmer konnte ich es nicht mehr schaffen, ehe die Tür sich öffnete. Also blieb ich stehen und wartete resigniert. Aus den ersten Worten würde ich vollständig erfahren, wie ihr Tag gewesen war.
    » Was willst du?«
    Streitlust, kaum verhohlen.
    Nichts Ungewöhnliches also.
    » Hallo Mum«, antwortete ich. » Alles in Ordnung?«
    Die Tür, die zunächst einen Spaltbreit geöffnet war, ging weiter auf. Ich konnte Charlies Bett sehen. Das Bettzeug war an der Stelle, wo sie gesessen hatte, leicht zerknittert. Sie war immer noch in Morgenmantel und Pantoffeln, hielt sich an der Türklinke fest und schwankte wie eine Kobra. Sie legte die Stirn in tiefe Falten und versuchte ihren Blick zu fokussieren.
    » Was machst du denn?«
    » Nichts.« Unvermittelt überkam mich eine heftige Müdigkeit. » Ich bin eben von der Arbeit gekommen, das ist alles. Ich wollte dir nur Hallo sagen.«
    » Ich habe noch gar nicht mit dir gerechnet.« Sie schaute mich verwirrt und ein wenig misstrauisch an. » Wie spät ist es denn?«
    Als ob das für sie eine Rolle spielen würde. » Ich bin heute ein bisschen früher dran als sonst«, erwiderte ich ohne weitere Erklärung. Die war auch gar nicht nötig, da es ihr sowieso egal war. Wie eigentlich fast alles.
    Außer Charlie. Ihr Charlie-Schatz. Charlie war eben ihr Goldkind. Sein Zimmer war unberührt. Seit sechzehn Jahren war dort nichts verändert worden: kein Spielzeugsoldat hatte seinen Posten verlassen, kein Plakat hing lose von der Wand. Ein Stapel zusammengelegter Kleidung wartete darauf, in die Kommode geräumt zu werden. Die Uhr auf dem Nachttisch tickte nach wie vor. Seine Bücher in den Regalen über dem Bett waren ordentlich sortiert: Schulbücher, Comics, dicke Wälzer über Flugzeuge im Zweiten Weltkrieg. Jungsbücher eben. Alles sah noch so aus wie damals, als er verschwand– als könne er jeden Moment hereinspazieren und einfach dort weitermachen, wo er aufgehört hatte. Ich vermisste ihn– tagtäglich vermisste ich ihn–, aber ich hasste dieses Zimmer.
    Jetzt wurde Mum unruhig und spielte nervös mit dem Gürtel ihres Morgenmantels. » Ich war gerade dabei aufzuräumen«, erklärte sie. Ich fragte nicht nach, was genau in einem Zimmer aufzuräumen war, in dem sich nie etwas veränderte. Die Luft darin war verbraucht. Mir wehte ein Hauch von ungewaschenem Körper und Alkoholdunst entgegen, und der Ekel schüttelte mich. Ich wollte nur noch weg von hier, so weit wie möglich weg von diesem Haus.
    » Tut mir leid, ich wollte dich nicht stören.« Ich zog mich hastig in mein Zimmer zurück. » Ich gehe gleich joggen.«
    » Joggen«, wiederholte Mum und kniff die Augen zusammen. » Dann lass dich bloß nicht von mir aufhalten.«
    Ihr veränderter Tonfall irritierte mich. » Ich… Ich dachte, ich störe dich.«
    » Aber nein, mach nur, was du willst. Das tust du ja sowieso immer.«
    Ich hätte nicht reagieren sollen. Ich hätte mich nicht einwickeln lassen dürfen. Eigentlich wusste ich, dass ich hier nicht gewinnen konnte.
    » Was soll das heißen?«
    » Ich denke, das weißt du ganz genau.« Mit Hilfe der Türklinke richtete sie sich vollends auf. Sie war gut einen Zentimeter kleiner als ich, also nicht sonderlich groß. » Du kommst und gehst, wie es dir gerade passt. Es geht immer nur nach dir, Sarah!«
    Ich hätte wohl bis eine Million
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